Wir freuen uns, mit 33 Bergwanderwege die vierte Einzelausstellung der Künstlerin Helen Mirra in unserer Galerie zu präsentieren. Helen Mirras Arbeit ist von einer auf Zeichensymbolik und Gestik beruhenden Bildhaftigkeit gekennzeichnet, die sich aus verschiedenen, doch von ihr gleichwertig eingesetzten Medien konstituiert. Fotografie, Film und Sound wie auch Sprache und Textilien stehen so immer wieder in einem konzeptuellen Dialog zu klassischen Gattungen wie Skulptur, Malerei und Zeichnung. Im Durchdringen, Verweben und Auflösen von Materialitäten und Kategorien generiert die Künstlerin so eine minimalistisch geprägte Objektsprache, welche definierte Zuschreibungen überwindet und in einen autonarrativen Bezugsrahmen einbettet.

In der Ausstellung 33 Bergwanderwege – die erste Präsentation von Helen Mirra in unseren Berliner Galerieräumen – wird diese in einer poetisch berichtenden, simultanen Darstellungsweise durch die Gegenüberstellung von medialer Präsenz und abstrakter Verknüpfung von Raum und Zeit verdeutlicht. 15 gefundene Steine, denen jeweils an der gegenüberliegenden Galeriewand 15 fotografische Ansichten zugeordnet sind, navigieren durch einen von Mirra aufgestellten Gedanken-Parcours, und verweisen als artifiziell gesetzter Markierungspunkt auf eine tatsächliche stattgefundene Handlung. Ausgehend von einer wissenschaftlichen Theorie bezüglich dem Vorhandensein eines Bewusstseinsgeschehens in unbelebten Körpern, hat Helen Mirra in einem Prozess des Laufens, Schauens, Erinnerns und Vergessens beim Durchwandern von 33 Streckenabschnitten des Schweizer Alpen- und Berglands 15 Findlinge ausgewählt, welche im Ausstellungsraum nebeneinander am Boden auf separaten, gefalteten Schweizer Militärdecken drapiert sind. Die weiche Materialität der Decken steht dabei im Kontrast zu der harten Substanz der Steine und bildet zugleich einen vom Galerieraum abgrenzenden Untergrund. Einer jeden skulpturalen Einheit aus Stein und Decke ist an der gegenüberliegenden Galeriewand eine als C-Print auf Papier ausgeführte Folge von Fotografien gehängt, wobei das gleichzeitige Betrachten von Objekt und Abbild nicht möglich ist und dem Betrachter eine Eigenbewegung im Raum abverlangt. Die perspektivisch gedrehten Ansichten unterschiedlicher Panoramen wurden von der jeweiligen Fundstelle des Steines aus aufgenommen, und halten in diesem willkürlich gewählten Auszug eine mögliche Blicksequenz aus einem potentiellen „Sichtfeld“ jenes Steins fest. Diese als Erinnerung fixierte, mit weißen und roten Farbflächen umrahmte Aufnahme besteht als wechselseitige Referenz, welche den Betrachtungswinkel zwischen Objekt und Abbild ausleuchtet und als Index festschreibt. Die minimalistischen, grafischen Farbeingriffe verweisen dabei als Spur auf die Symbole der Streckenmarkierungen entlang der von Mirra abgelaufenen Wanderwege. Die jeweils zusammengehörigen Skulpturen und Drucke der Installation sind ihrerseits durch die als Titel registrierten Koordinaten des Fundorts gekennzeichnet, und bilden so eine Referenz auf eine außerhalb der Arbeit liegende Wirklichkeit – welche eine Bewegung in Zeit und Raum einschließt und als Momentaufnahme in die Ausstellungssituation überträgt.

Die Künstlerin beschreibt mit dem Werkzyklus Mind of a Rock eine Utopie, welche sich im Vorgang der Bezeichnung als semiotische Bildsprache (nach Charles S. Peirce) im Betrachtungsraum veräußerlicht. Als Rezipient und Autor zugleich ordnet Helen Mirra diesem Beziehungsgefüge innerhalb der Installation eine Bedeutung zu, welche als bildhaft formulierte Vorstellung – als Idee – in die Arbeit eingebettet ist. Die Annahme eines Bewusstseinsstroms („stream of consciousness“) in unbelebten physischen Strukturen, wie sie in der erkenntnistheoretischen Bewusstseinsanalyse von dem amerikanischen Psychologen und Philosophen William James 1890 in Betracht gezogen wurde, bildet mit den gefundenen Steinobjekten als Versatz einen Fokus in Mirras Werkgruppe. Diese formuliert dabei keine Wissenschaft, sondern besteht – mit Referenz zu einem wissenschaftlichen Diskurs – als selbstreflexive, ästhetische Botschaft. Die Installation skizziert dabei ein Spiel mit Möglichkeiten, die sich in dem von der Künstlerin abgesteckten Rahmen auf sich selbst beziehen, und sich als Symbole ihrer selbst zeigen. Der tatsächliche Handlungsverlauf besteht hierin als Imagination, welche in einem fiktiven Rekonstruktionsprozess in der Wahrnehmung des Betrachters simuliert, und im Verbleib von Relikten und im Erzeugen von Gegenbildern als visuelle Manifestation und Erörterung im Galerieraum evident wird. Es ist eine Vorstellung des Wahrscheinlichen, die Helen Mirra in einer reduzierten sowie präzisen Objekt- und Bildsprache in ihrer Arbeit nachzeichnet, wobei sich das Wesentliche dem Objektiv der Kamera entzieht und zugleich dem Betrachter in einem erzählerischen Kontext im Aufgreifen eines möglichen Blicks darstellt.

Christina Irrgang