(De) Ich sage nicht, wir seien geschnitten aus dem gleichen Baum,
Aber wie zwei Teile des Galgens,
Der Pfosten und der Querbalken,
Wie zwei Teile des Galgens
Teilen wir einen gemeinsamen Traum:
Das zu zerstören, was anderen schaden würde,
Mein Freund.
— Bill Callahan, My Friend [Mein Freund], 2009.
Im Bernstein wird schwebend festgehalten, umhüllt, zur letzten Ruhe gebettet, konserviert. Im durchsichtigen Gehäuse des Bernsteins wird das einst Lebendige – einem Juwel gleich – geschützt vor dem Zahn der Zeit verwahrt. Auch Räume sind Einfriedungen, Fassungen. In Räumen verbringen wir unsere Lebenszeit in der Gesellschaft von Gegenständen und Bildern, eventuell auch von Lebensgefährten. Manche unter uns fühlen sich in Räumen ebenso geborgen wie das prähistorische Wesen im Bernstein. Im Wort „Bernsteinzimmer“ schwingt also das Museum mit – jene leuchtende, zeitlose Vorhölle, die solche Gegenstände beherbergt, die zwar dem Blick freigegeben sind, aber nur unter der Bedingung, dass sie außer Reichweite bleiben. Die Arbeiten von Scott Myles zeigen sich häufig aufgeschlossen für die Auswahl- und Präsentationsbedingungen des Museums, etwa dann, wenn er die aus Postern zur freien Mitnahme bestehenden Werke von Félix González-Torres modifiziert und rahmt, wobei er die freie Gabe des Künstlers erwidert, ihr aber sogleich eine unberührbare, auratische Einzigartigkeit verleiht. In seinen Arbeiten setzt sich Myles indes ebenso mit solchen Räumen auseinander, die mit den aufeinanderfolgenden, geordneten des Museums kontrastieren: mit den bald häuslichen, bald kommerziellen Räumen des Alltags sowie – bezeichnenderweise – mit dem des Ateliers. Zwischen diesen unterschiedlichen Räumlichkeiten legt der Künstler Wege frei, indem er die Räume aufbricht, verbindet, fragmentiert, neu zusammensetzt, den einen Raum als Abbild des anderen neu kreiert.
In der Ausstellung „Amber Room“ lässt sich dieser Ansatz in gleich mehreren Werken erkennen. Gezeigt wird etwa die Plastik Law of Large Numbersaus dem Jahr 2008, die auch Teil von Myles’ Vorgängerschau in der Galerie war und so die Galeriebestände quasi als Museumssammlung behandelt. Ihre Form verdankt die Skulptur einer kuriosen architektonischen Nebeneinanderstellung, die dem Künstler im Londoner Finanzviertel aufgefallen ist, ihr Oberflächenmuster spielt auf die Verwendung des Zufallsprinzips im Erweiterungsbau zur Karlsruher Heinrich-Hübsch-Schule aus den1980er Jahren an. Law of Large Numbersbildet ein Portal, eine zu überschreitende Schwelle.
Die Türzarge ist nur eine der Rahmungsmethoden, auf die in „Amber Room“ angespielt wird. Da sind etwa die Rahmen, von denen die Zeichnungen des Künstlers auf der Rückseite der González-Torres-Drucke hervorgehoben und isoliert werden. Da ist der Verweis auf den Fensterrahmen als Schwelle zur Abreise, als Raum des Abschiednehmens, im Siebdruck Goodbye Window. Und in einer neuen Gemälde-Serie kommt immer wieder ein bildliches Gestaltungselement vor, das eine partielle Wiederholung des Leinwandrandes, eine illusionistische Suggestion vom Bild als perspektivischem Fenster, aber auch eine schaurige Andeutung des Galgens oder gibbetdarstellt – letzteres Moment wird durch das Vorhandensein eines Seil- oder Strickmotivs in einigen der Bilder noch unterstrichen. Dass Myles unlängst mit seinem Atelier in ein Gebäude umgezogen ist, das einst eine Polizeikaserne war und in Sichtweite des Glasgower Gerichtsgebäudes steht, mag diese Ikonografie mit ihrer Andeutung der damaligen, staatlich sanktionierten Gewalt samt der öffentlichen Zurschaustellung hingerichteter Körper beeinflusst haben. Ebenfalls von Einfluss ist aber zweifelsohne der dunkle Grundtenor unseres eigenen Zeitalters. Dieser kommt etwa in dem einzigartigen Siebdruck Shock and Awe[dt. Schock und Einschüchterung – der Codename der US-amerikanischen Bombardierungen am Anfang des Dritten Golfkriegs 2003] zum Ausdruck und ebenso in der Geste, mit welcher der Künstler das Wort „ZEIT“ auf der Rückseite von González-Torres’ Werk Untitled (Death by Gun) aus dem Jahr 1990 schreibt – das Bild gemahnt an die 460 Personen, die 1989 allein in der ersten Maiwoche durch Gewehrschüsse getötet wurden. Hier prägt die Vergangenheit den Urgrund unseres unruhigen, verunsicherten Zeitgeists.
Die Motive anderer Gemälde sind spontaneren Ursprungs. Sie basieren auf weggeworfenen, auf der Straße gefundenen Materialien und sind auf deren Oberflächen nachgezeichnet oder gedruckt worden. Myles hat häufig auf Drucken sowie auf Skulpturen gemalt. Seit kurzem druckt er auch auf Leinwand. Seine neuen Gemälde auf Leinwand entsprechen damit seiner Praxis, Materialien, Bilder und Motivik aus dem eigenen Schaffen sowie aus der Kunstgeschichte und sonst woher wieder aufzugreifen und zu modifizieren. Einige dieser Schlüsselmotive lassen sich in der Sammlung der hier ausgestellten Tuschezeichnungen erkennen, die auf Atelierimprovisation als tragende Säule von Myles’ Praxis verweisen. Dies gilt ebenfalls für die Plastik Untitled (echo), der das von Amazon entwickelte, mittlerweile allgegenwärtige, stimmgesteuerte Alexa-Gerät zugrunde liegt. Das ursprünglich für eine Ausstellung in Tokio geschaffene Werk wurde 2017 durch das Hinzufügen von Schneckengehäusen als Teil der Einzelausstellung This Way Out adaptiert, für deren Dauer Myles eine Glasgower Galerie in ein öffentlich zugängliches Atelier umwandelte. Gleichermaßen erinnert eine neue, auf die Augenhöhe des Künstlers zugeschnittene Säulenskulptur an eine Serie von Halbtondrucken aus dem Jahr 2010, in denen ähnliche Formen im Umfeld eines Ballettstudios dargestellt werden. Für „Amber Room“ sind der Sockelform Ballettstangen hinzugefügt worden, als würde die Plastik ihre einstige Umgebung assimilieren. Die quasi auf die belebende Präsenz einer Balletttänzerin wartende Plastik trägt auch Bandagen – eine Geste, die an die eingewickelten und in Bernsteinkisten eingeschlossenen Reisekoffer erinnert, die Myles 2014 in der Schau Mummiesgezeigt hat.
In einer künstlerischen Praxis, in der Formen und Techniken kontinuierlich neu gedacht, neu verwendet und neu angeeignet werden, funktioniert Myles die Galerie oder das Museum zum Portal seines Ateliers und dessen Umgebung um. Dabei entwirft er für Gegenstände ein neues Leben, das weniger von einem Bedürfnis nach Stillstand und Bewahrung als von deren Lebhaftigkeits- und Transformationspotential ausgeht. Der aus einem Pfosten und einem Querbalken gezimmerte Rahmen mag das Aufzwingen von Ordnung, Beständigkeit, gar Tod suggerieren. Wie in Bill Callahans anfangs zitiertem Gedicht aufgezeigt wird, kann er aber auch als Baustein dienen, nämlich für die künstlerische Beschwörung eines besseren Traums.
Dominic Paterson (The Hunterian / University of Glasgow)
übersetzt von Richard Humphrey