(De) Decken
Anna kann nicht zugedeckt schlafen. Gegen den Kontakt mit der Bettdecke wehrt sie sich, als ob sie ihre Haut reizt oder schwer auf ihrem Körper lastet, als hätte man einen großen Felsklotz auf sie draufgelegt. Sie schläft unruhig, sie muss im Schlaf Drachen retten, weil die sonst ausgerottet werden. Tagsüber wirft sie sich die Decken aber gerne über. Ewig lang kann sie darunter sitzen oder stehen, spricht auch gern durch sie hindurch (sie mag das, was der Stoff mit ihrer Stimme macht). Als sie mal Fieber hatte, wurde sie in ein nasses kaltes Bettlaken eingewickelt, dazu nasse Socken. Das Fieber sank blitzschnell und kam genauso schnell zurück, sobald das Laken wärmer wurde. Anna verfrachtet gerne Decken, aber auch Tisch- und Handtücher auf den Boden. Baut daraus Zonen, die man betreten darf oder auch nicht. Mit ihrer Hilfe schafft sie sichere, umgrenzte Orte. Wickelt Verwundete und Kranke darin ein. Aus Decken macht sie Vorhänge und Trennwände, Schutzhöhlen gegen unerwünschte Blicke anderer, gegen alles, was gefährlich ist. Durch Betttücher hindurch betrachtet sie ihr Umfeld wie durch einen Schutznebel.
Monster
Ein Monster lebt bei uns im Flur. Anna füttert es mit Keksen, damit es uns nachts in Ruhe lässt. Anna unterscheidet zwischen Nachtgespenstern, welchen, die draußen vor dem Fenster schweben, und solchen, die tagsüber hier um uns sind. Denen begegnen wir normalerweise nicht, sie sind Teil unserer Welt. Wir können sie bekämpfen und das plant Anna häufig. Dann gibt es innere Gespenster, die machen, dass wir anders handeln als wir wollen. Anna beschwert sich häufig über ihren Kopf. Sie sagt, dass dort ständig jemand mit ihr spricht und dass sie das müde macht. Manchmal wird sie nachts von Albträumen geweckt. Ein Gespenst, das in Anna drinsteckt, sagt, sie solle Sachen tun, die sie nicht tun will. Für die Taggespenster, solche, die davon leben, dass jemand anders keine Heimat hat, kein Essen oder keine menschenwürdige Arbeit, entwirft sie Käfige. Wenn man die nämlich im Käfig rauspackt in den öffentlichen Raum, wo sie sehen, wieviel Leid und Schaden sie anrichten, trägt das angeblich zu ihrer schnellen Besserung bei.
Anna
und die Welt
Anna glaubt an eine Welt jenseits aller klassischen Hierarchien. Warum sollte ein Hund, ein Vogel oder eine Kuh nicht gleiche Rechte haben? Sie hat eine fliegende Rettungsstation entworfen, die für diejenigen sorgen soll, die es brauchen, aber keine Hilfe bekommen – deren Rufen die Menschen nicht hören wollen. Anna schaut Tierfilme, um Bewohner dieser Erde kennenzulernen, denen wir normalerweise nicht begegnen. Die Kommentare der Moderatoren mag sie nicht, sie will nur die Tiere sehen. Manchmal, in Situationen, in denen irgendein Handeln erklärt werden muss, sagt Anna mit leicht schelmischem Lächeln, dass sie kein Mensch sei. Und dann scheint es, dass ein Leben jenseits all der normativen Kategorien und Identitäten, die mit dem Leben in einem menschlichen Körper verbunden sind, weit besser zu ihr passen würde (so wie wahrscheinlich auch zu vielen von uns anderen). Wann immer es geht, verbringt sie Zeit unter dem Tisch oder auf dem Boden. Anscheinend kann sie in dieser Zone außerhalb unseres Blickfelds den Körper noch relativ frei bewegen. Sie kann nicht lesen, betrachtet aber die Welt schon durch normative sprachliche Kategorien, dadurch, welches Wort passend ist. Gern spielt sie mit Wörtern, hat jede Woche andere Favoriten, die sie so lange und exzessiv benutzt, bis sie durch sind. Gern verwendet sie die Wörter in Kontexten, in denen sie normalerweise nicht auftreten. Wenn sie die Erde für eine Kugel hält, hat diese Kugel unzählige Augen, die schauen, zufallen oder schlafen, unzählige Ohren, die Geräusche und Geschichten hören und unzählige Münder (Münder, Schnauzen oder Schnäbel), die sich um Kommunikation mit anderen bemühen. Gegenstände teilt sie ein in welche, mit deren Hilfe man etwas tun kann (wenn die sich nicht so verhalten, wie es sein soll, wird sie wütend, hier ist die Empathie noch nicht entwickelt), und in welche, um die wir uns kümmern müssen - die zum Umarmen da sind. Zu Hause hat sie einen unsichtbaren Knopf, mit dem sie das Haus steuern kann, das kann dann nach Belieben durch die Welt reisen. Anna gefällt die Philosophie des Nichtwachstums – für die Dinge, die schon da sind, sucht sie neue Verwendungsmöglichkeiten. Jeden Tag trainieren wir „was wäre wenn“. Jeden Tag kämpfen wir gegen Institutionen. Annas Welt ist ständig bedroht, und diejenigen, die versuchen werden, sie zu stören, zu erziehen und zu normieren, werden immer mehr. Wie kann man mit jemandem wie Anna über Gewalt sprechen, die unbegründet ist, über eine Welt, die auf Ausbeutung und Unterdrückung beruht, und dabei die Hoffnung auf Veränderung bestärken? Wie kann man gemeinsam mit Anna verlernen, die Welt in binäre Begriffe einzuteilen, die uns voneinander trennen, die uns in Kategorien wie normal und anders, krank und gesund, nützlich und unbrauchbar einsperren …? Wie kann man sich unter dem Tisch effektiv auf die Welt da draußen vorbereiten, ohne in der Zukunft um die Schutzhöhle gebracht zu werden?