(De) Am Anfang war da ein Loch. Es tat sich plötzlich auf, ohne dass man es geahnt hätte.
Daniel Roth beschreibt die Öffnung in der Erdkruste – wie man sie auf einer Archivaufnahme im hinteren Raum der Galerie sehen kann – als den Punkt, an dem er in eine Geschichte eintaucht. Für die Ausstellung Le fantôme bei Meyer Riegger hat sich Roth durch solch ein Erdloch Zugang zum Brüsseler Justizpalast verschafft. Gefunden hat er dort Spuren unsichtbarer Handlungen. Roth schreibt:
„Der Justizpalast auf dem Galgenberg in Brüssel ist die größte Ansammlung von aus Menschenhand bearbeiteten Steinen in Europa – ein monströses Bild sanktionierter Gewalt. Vor den Außenwänden des Gebäudes liegt eine unbewohnte, sich auflösende Landschaft in gleichgültigem Licht, die Gegenstände anspült. Im Innern, hinter zahllosen Nischen des untergehenden Imperiums, finden sich Spuren von Handlungen in Form von abgelegten Gegenständen und kostümartigen Objekten.”
Die Ausstellung bei Meyer Riegger ist eine Fortsetzung der Schau Der Schrank des Austerlitz 0.8, die diesen Januar in der V8 in Karlsruhe zu sehen war. Wobei man wohl nicht von einer Fortsetzung sprechen sollte, sondern eher von einer neuen Ebene, da Roth – obwohl seine Ausstellungen sicher einen narrativen Gehalt haben – nicht linear arbeitet, sondern kartografisch. Wie auf einer imaginären Landkarte entwirft er von Ort zu Ort wandernd, Fiktionen und Narrative, die sich überlagern und verbinden.
Während in der V8 hinterlassene Gegenstände aus dem Raum 0.8 des Justizpalastes zu sehen waren, begibt sich Roth nun mit seinem neuen Film Le fantôme de la salle de la cour d’assises (1.34) in das Herzstück des Gebäudes aus der belgischen Kolonialzeit – in Raum 1.34, den Schwurgerichtssaal. Hier werden die Fälle von Schwerverbrechern und Terroristen verhandelt. Das Kameraauge folgt den Hinterlassenschaften dieser unsichtbaren Handlungen, die Roth für seine Erzählung im Brüsseler Justizpalast interessieren. Zu sehen sind Objekte wie Haare, ein orangefarbenes Tuch, eine schwarze Linse, Kabel. Die Vorhänge sind zugezogen, die roten Stühle verrückt, am Panzerglas der Sicherheitskabine sind Fingerabdrücke zu sehen. Verstärkt wird diese geheimnisvolle Stimmung durch den Sound des 8-minütigen Farbfilms. Teil der Geräuschkulisse sind Aufnahmen aus der Justizvollzugsanstalt in Karlsruhe. Menschen tauchen nicht auf. Gewalt wird hier nicht als Handlung sichtbar, sondern als Aura spürbar, als Vorahnung und als Gefühl, das alles infiziert, auch die Objekte. Der qualitative Unterschied von der Stimmung eines Ortes, an dem Verbrechen aufgeklärt werden, zu der eines Ortes, an dem Verbrechen geschehen, scheint im Film wie aufgehoben.
Der Schwarz-Weiß-Film Encounters at a possible End of the Inner Chambers (2011), ursprünglich auf 16 mm gefilmt und nun digital projiziert, zeigt einen unterirdischen Raum als Übergang zum Justizpalast. Bei dem Gebäude mit der monumentalen 100 Meter hohen Innenkuppel handelt es sich um einen Hochsicherheitstrakt mit 27 Gerichtssälen. Die Kamera tastet die erdkrustenhafte Struktur der Wand ab und findet kleine Löcher, durch die mittels eines Röhrchens Rauch einströmt. Der Film veranschaulicht metaphorisch, wie ungeahnte Öffnungen und nicht einsehbare Gänge das Überschreiten von als gesetzt gedachten Grenzen möglich machen. Wie eine kleine Modellversion des realen Erdlochs führt er vor, wie Körperhaftes oder Gedanken mittels der Verbindung durch das Loch zwischen Räumen, Innen und Außen hin- und her strömen kann. Das Loch steht hier nicht für Leere, sondern wird zum Katalysator für mögliche Erzählungen.
An genau solchen Zweigstellen von Fakt und Fiktion setzt Roth mit seinen Arbeiten an, die sich daraufhin rhizomartig verästeln und wie auf einer geistigen Landkarte, Verbindungen eingehen mit älteren Werken. Durch das Kombinieren einzelner Elemente in andere installative Zusammenhänge entstehen wie durch die Tektonik von Erdplatten neue Schichten, Plateaus, Täler und Berge in Roths imaginärer Landschaft. Es resultieren Überlagerungen, Distanzen schrumpfen und Größenverhältnisse verschieben sich. Das Nicht-Zusammenhängende wird zum Kontinuum. Der Grund wird zum Gipfel. Die Beziehungen, die Roth mit seinem Werk schafft, implizieren eine „Geographie der Relation“ . Das vorherrschende Prinzip ist hier nicht der Raum, sondern der Zwischenraum, der Abstand, die Differenz, die Abwesenheit – das Loch. Während der Reise durch die geistigen Gänge und Verschachtelungen von Roths Ausstellung, liegt die Bedeutung deshalb nicht unbedingt in dem, was man sieht, sondern in den Verbindungen; in den Auslassungen; in den Spuren und in den bislang unsichtbaren Zugängen.
Weil Roth kartographisch arbeitet und immer wieder alte Fragmente mit neuen verwebt, haben seine Erzählungen keinen Anfang und kein Ende. Er entwickelt diese ausgehend von der Konjunktion „und“ statt auf Basis des Verbs „sein“. Dabei geht es nicht darum, einen Fall zu lösen oder Spuren zu lesen. Vielmehr werden Kriminalität, Gerechtigkeit und die Architekturen sanktionierter Gewalt in der Ausstellung ausgehend von Fragmenten verhandelt, die keine eindeutige, für sich stehende Bedeutung haben, sondern assoziative Verkettungen ermöglichen, sodass auch semiotische Bezüge zwischen sonst nicht in Zusammenhang stehenden Themen möglich werden. Ästhetische, biologische, psychische, gesellschaftspolitische, physikalische, juristische Problemfälle überlagern sich und treten in Beziehung.
Es gibt deshalb kein „richtiges“ sprachliches Register zur Beschreibung von Roths narrativen Spurensuchen. Seine Geschichten loopen, verwickeln und wölben sich ineinander, vielleicht zu einem einzigen Ereignis. Wie Jörg Heiser schreibt: „Es ist einer der schönsten Effekte von Roths Arbeiten, dass jeder, der ihren narrativen Gehalt nacherzählt, klingt wie jemand, der mitten in einer förmlichen Situation (einer Laudatio, einem Verkaufsgespräch) plötzlich detailliert einen Traum der vergangenen Nacht schildert.” Das Besondere bei Roth ist, dass wir dabei nicht für uns allein träumen, sondern kollektiv.
1 Gilles Deleuze und Claire Parnet, Dialoge, Frankfurt/M. 1980, S. 63
2 Jörg Heiser, „Ähnlichkeit und Kontiguität“, in: Black Dust Passages, Leipzig 2003, S. 72.
Text: Alicja Schindler