(De) Mit großer Freude zeigt Meyer Riegger erstmals die Arbeiten von Olivia Sterling (geb. 1996 in Peterborough, UK) und damit die erste Einzelausstellung der Künstlerin in Deutschland. Sterling hat die Galerieräume von Meyer Riegger für ihre Ausstellung in ein Restaurant verwandelt, auf dessen Bühne sich Dinner with a Show abspielt.
Beim Betreten der Galerie befinden sich die Besucher*innen augenblicklich in einem Speisesaal, umgeben von Gästen, die Essen und Getränke zu sich nehmen. Weit davon entfernt, schicklich zu sein, vermitteln die Malereien mit ihren rauen Szenen ein Gefühl von Dringlichkeit. Der vollbusigen Frau aus Food Stains 2 ist anscheinend eine Gabel voll Spaghetti mit Hackfleischbällchen auf den Schoß gefallen. People Talk with their Hands zeigt mehrere Gäste, die jemandem (unsichtbaren), der an ihnen vorbeiläuft, Beifall klatschen. Und in Food Stains 1 kippt eine Restaurantbesucherin in ihrem mit Sahne bekleckerten Kleid mitsamt Stuhl nach hinten, während ein auf die Tischdecke geplumpster Schokoladenpudding gefährlich nah an der Tischkante hängt. Auch wenn nicht klar ist, was genau, scheint etwas Beunruhigendes im Gang zu sein.
Sterlings Arbeiten zeichnen sich durch solch uneindeutige Erzählungen aus. Ihre Malereien sind reizvolle Hinweise auf ambivalente Ereignisse, die oft in qualvoll verlockender Ferne liegen. Aber sie zwingen uns, näher hinzuschauen, über die üblicherweise spielerischen, eng zugeschnittenen und farbenfrohen Leinwände hinaus, die vor Armen, Beinen und halb aufgegessenen Speisen nur so wimmeln. So gesehen können Sterlings Bilder als zeitgenössische Genremalerei betrachtet werden, allegorische Szenen des alltäglichen Lebens, die uns dazu anregen, über unsere Fehlvorstellungen und Vorurteile nachzudenken, und unsere Einstellungen bezüglich „Rasse“, Klasse, Geschlecht und sozialem Status zu hinterfragen.
Eine weitere Arbeit im Speisesaal, Small Openings, versetzt uns in die Lage von Voyeur*innen: Unsere Köpfe befinden sich unterhalb des Tisches und gaffen in Richtung einer gleich von zwei Seiten von Männern bedrängten Frau. Ihre umständlichen Bewegungen zeigen klar und deutlich, dass diese Avancen unerwünscht sind. Sie windet sich in dem Bestreben, Körperkontakt zu vermeiden, wodurch ihr Kleid hochrutscht und ihre Unterwäsche entblößt wird. Sterling verweist im Rahmen dieses Bildes auf Philip Gustons Monument (1976) und seine Überzeugung, dass der wichtigste Teil dieser Malerei eine kleine Lücke inmitten der übereinandergestapelten Beine ist, die es darstellt. In Sterlings Small Openings befindet sich diese wichtige Lücke zwischen den Oberschenkeln der Frau – ein geschmackloser Scherz, der an die Art anachronistische Komödie erinnert, die sich früher üblicherweise aus billigen Lachern auf Kosten von Frauen, People of Color und anderen marginalisierten Gruppen speisten. Diese Art überholter Humor, dessen gängige Bildwelt Sterling zweckentfremdet, stellt einen der wichtigsten Referenzpunkte dieser Ausstellung dar und fordert uns zum Nachdenken darüber heraus, wie wir uns in solchen Situationen fühlen oder reagieren würden.
Der doppelte Verweis auf Guston und Komödien ist typisch für Sterlings Praxis, die sich aus vielen verschiedene Quellen ableitet und nicht zwischen bildender Kunst und Elementen popkultureller Bildwelten unterscheidet. Anhaltspunkte für ihre Kompositionen findet sie in allem möglichem von Renaissance-Malerei zu Tom und Jerry-Cartoons, und ihre Stilelemente umfassen Hinweise sowohl auf William Hogarths satirische Radierungen aus dem 18. Jahrhundert, Beryl Cooks Alltagsmalereien aus dem 20. Jahrhundert als auch auf Comic-Hefte.
Eine stilistische Besonderheit, die sich in vielen Arbeiten findet, sind Buchstaben, die Sterling neben Bildelementen notiert. Die Buchstaben „B“, „P“ und „W“ lenken unsere Aufmerksamkeit auf die Farben Braun/Schwarz (engl. black/brown), Pfirsich/Rosa (weiße Haut, engl. pink/peach) und Weiß (die tatsächliche Farbe). Diese Symbole erfüllen eine doppelte Funktion: Einerseits erinnern sie uns daran, wie schnell wir häufig Dinge aufgrund ihrer Farbe einordnen. Anderseits verweisen sie auf Sterlings eigene natürliche Reaktion als Person of Colour, die einen Raum beim Betreten zunächst zögernd wahrnimmt, während sie ihn mit den Augen scannt.
Beim Verlassen des Speisesaals betreten wir eine kleinere, blau gestrichene Küche voller arbeitender Kellnerinnen und Köchinnen. Der Raum wird von einem großformatigen Triptychon bestimmt, mit dem die Ausstellung ihren Titel teilt: Dinner with a Show. Während im Speisesaal der Buchstabe P neben den Gästen vorherrscht, ist auffällig, dass nun der Buchstabe B die im Bild aneinandergedrängten Restaurantangestellten begleitet. Die Arme des Personals sind ausgestreckt und greifen nacheinander, vielleicht als Geste der Unterstützung oder als Ausdruck der Fassungslosigkeit. Eine Köchin drückt den Spritzbeutel in ihren Händen zu fest, so dass ein weißer Schwall Sahne herausplatzt.
Eine weitere, kleinere Malerei in diesem Raum, Never Mind, zeigt einen Koch oder Kellner, der vornüber gebeugt auf einem Stuhl sitzt. Auch wenn wir sein Gesicht nicht sehen können, zeigt das Bild deutlich eine Szene der Verzweiflung. Auffälligerweise hängt über seiner Stuhllehne ein mit braunen Flecken beschmutztes weißes Tuch. Dies ist ein Verweis auf Anthony Bourdains Memoiren Kitchen Confidential (2000) und die offensichtliche Bedeutung von weißen Putztüchern für Küchenpersonal, das sie „hortet“, um Teller zu reinigen und Arbeitsplätze sauber und ordentlich zu halten. Für Sterling fungiert die Bedeutung dieser Tücher als Symbol für die Bedeutung des Weißseins in der Hegemonie weißer Gesellschaften. Sie merkt dazu an: „Wie fühlt es sich an, in einem weißen Land, in dem Weißsein dein alltägliches Leben bestimmt, eine Person of Colour zu sein? Vielleicht wie ein farbiger Lebensmittelfleck auf einem scheinbar strahlendweißen Tuch.“
Blicken wir, zurück im Speisesaal, nachdem wir der Küchenszene beigewohnt haben, anders auf das Geschehen? Stellt Food Stains 1 eigentlich einen Racheakt dar, in dem eine Kellnerin eine Strafe an einen sittenwidrigen Gast austeilt und diesen vorsätzlich mit Sahne bekleckert? Und applaudieren die Personen aus People Talk with their Hands, während der Gast seine gerechte Strafe (oder sollte es in diesem Fall heißen: „den Nachschlag“) erhält?
Der letzte, kleinste Ausstellungsraum ist der Restauranteingang. Oder in diesem Fall vielleicht genauer: der Ausgang. Die einzige Malerei in diesem Raum, Hot Blooded Male, zeigt, wie ein Mann von einer*m Serviceangestellten mit einem sahnigen Fußabdruck auf seinem Hinterteil kurzerhand herauskomplimentiert wird. Sicherlich hat diese Malerei einen Teil Wunscherfüllung an sich, nämlich dessen, wie Frauen und/oder People of Colour gerne in Situationen der Voreingenommenheit und Bigotterie reagieren würden, aber dazu nicht in der Lage sind.
In dieser Malerei sehen wir auch die andere Seite von Komödien im Vergleich zu der in Small Openings angesprochenen — eine Form, die ihr Potenzial zum Kampf gegen Ungerechtigkeit nutzt. Und darin liegt die grundlegende Dichotomie von Sterlings Arbeiten: Sie spielen fröhlichen Cartoon-Realismus gegen Inhalt aus, der alles andere als das ist. Was ihre Malereien auszeichnet ist ihre Fähigkeit, die Kraft des Witzes auszuschöpfen, um einige der zutiefst sensiblen und schwierigen Themen anzusprechen, denen die Gesellschaft gegenübersteht. Ihre Malereien, die zunächst ausgesprochen heiter und unbeschwert wirken, ziehen uns an und lullen uns ein in ein falsches Gefühl von Sicherheit. Und dann, wie die beste, durchdringendste Komödie, verpasst sie uns mit einer scharfen Prise Realität einen Tritt in den Hintern.