(De) Der 1977 im Bundesstaat Minas Gerais, Brasilien, geborene Paulo Nazareth lebt und arbeitet weltweit als Künstler. Neben seiner künstlerischen Tätigkeit, verfolgt er auch „Ultralangwanderungen“. So verließ er im März 2011 etwa seine Heimat und lief zu Fuß (mit nur gelegentlichen Busfahrten) bis zu seiner Zieldestination New York. Im Dezember desselben Jahres präsentierte er in Miami, das etwa die halbe Wegstrecke zwischen Süd- und Nordamerika markiert, die Arbeit Banana Market / Art Market anlässlich der Art Basel Miami Beach.
Nach seiner Heimkehr aus New York lancierte Paulo Nazareth das Projekt Noticias de America, eine laufend ergänzte Sammlung von Fotos, Interviews, Videos und objets trouvés, die eine langsame Echtzeit-Analyse seines eigenen, von Mühen begleiteten Lebenswegs sowie der Lebenswege von Menschen, denen er im Laufe seiner Reisen begegnet ist, beinhaltet. Obwohl seine künstlerische Praxis unterschiedliche Disziplinen wie Fotografie, Malerei und Bildhauerei umfasst, fußt seine Arbeit vor allem auf der Wichtigkeit von Begegnungen und speist sich dementsprechend aus dem Austausch von Geschichten und Erlebnissen, die Materie und Ertrag seiner Wanderungen darstellen. Anhand dieses Stoffkonvoluts setzt er sich mit den Problemfeldern Immigration, Marginalisierung, Identität und den Folgen der zunehmenden Globalisierung auseinander. Ausgangspunkt seiner kritischen Analysen der sozialen, politischen und ökonomischen Ungleichheiten, die in seinem Heimatland, Brasilien, und anderswo festzustellen sind, ist allerdings der Kolonialismus, der immer noch einen dunklen Schatten auf die Gegenwart wirft.
Für seine aktuelle Ausstellung in der Galerie Meyer Riegger, Berlin, reflektiert Nazareth die historischen Beziehungen zwischen Südamerika, vor allem Brasilien, und Deutschland, wobei er diverse Momente und Folgen des Kolonialismus fokussiert. Nachdem Christoph Kolumbus für Europa den amerikanischen Kontinent entdeckte, galt sie fortan in der Vorstellungswelt der weißen, Westeuropäerinnen als irdisches Gegenstück des Garten Edens. Die für Europäerinnen unerforschten tropischen Wälder weckten die Neugierde vieler Menschen und mit ihr den Wunsch nach Expeditionsreisen. Aufgrund ihrer Ressourcen, wurde sie von den europäischen Staaten als Plünderungsobjekt angesehen. So wie Adam und Eva, kaum hatten sie die Erbsünde begangen, aus dem Garten Eden vertrieben wurden, so wurde aus dem Versprechen dieses künftigen Paradieses nichts weniger als die Zerstörung des Paradieses selbst.
Wie etliche andere schiffte sich auch Hans Staden, ein deutscher Soldat und Matrose, in der zweiten Hälfte des Jahres 1550 auf ein spanisches Schiff mit Destination Brasilien ein. Er erlag der Faszination dieser Länder, wurde aber auf seiner zweiten Erkundung von Mitgliedern der Tupi entführt. Als ihr Gefangener beobachtete er ihre Lebensweisen, die er als „kriegerisch“ und „kannibalisch“ bezeichnete. Er machte Skizzen und Aufzeichnungen zu ihren Ritualen und notierte, wie sie ihre Gefangenen töteten. Inzwischen mit Lithografien versehen, wurde das so entstandene Buch [1] später veröffentlicht. Mit ironischem Unterton zeigt uns Paul Nazareths Gemäldeserie Hans Staden or Eden Garden die Lebensweisen der Tupi und fokussiert einen Augenblick der Aporie, in dem der „Eroberer“ zum Opfer der zu erobernden Gemeinschaft wird, mit der er nicht vertraut ist und die er vor allem nicht versteht.
Die mit Columbus einsetzende Kolonialisierung drückte dem Land und den bestehenden lokalen Gemeinschaften eine neue Dynamik auf, die alles verschlang und die bis dahin existierende Welt vernichtete. Mit Ovo de Colombo - Produtos de genocidio präsentiert Nazareth eine Serie von Harzskulpturen, die sich spezifisch auf diese verhängnisvollen Ereignisse bezieht. Die Skulpturen enthalten jeweils Nahrungsmittelprodukte mit dem Markennamen der Tupinambá, einer Gemeinschaft, die den Tupi angehört. Die Nahrungsmittel sind im wahrsten Sinne des Wortes Produkte eines Völkermords. Sie stellen ein posthumes Mahnmal für diese Gemeinschaften dar, die inhaftiert wurden und größtenteils verschwanden.
Der „kolonisierende Teufel“ wird auch in den beiden Bildserien Capeta [Port.: Teufel] und Get Out from the Garden dargestellt, deren Ton ebenfalls bitter ironisch und mitunter mit drastischer biblischer Ikonographie untersetzt ist. So lässt uns der Künstler über die damaligen und noch heutigen Auswirkungen des Kolonialismus gegenüber den lokalen Gemeinschaften sowie über das ununterbrochene Vorhandensein kolonialer Unterdrückung in der modernen Gesellschaft reflektieren. Er zeigt auf, dass aufgrund der diversen Kulturen und Identitäten und den damit einhergehenden Ungleichheiten in Gesellschaftssystem und Infrastruktur die Rassendiskriminierung in Brasilien – wie in vielen anderen Ländern – noch stark ausgeprägt ist.
Paulo Nazareth selbst beschäftigt sich auch mit seiner eigenen Vergangenheit, da er sowohl auf dem afrikanischen als auch südamerikanischen Kontinent Vorfahren besitzt. Seine Herkunft, so der Künstler, erlaube es ihm „schwarz, indigen oder einfach exotisch zu werden, wann auch immer es mir passt“. [2] Dies mündet in dem Wunsch, ein diverses kulturelles Gedächtnis zu haben, was entsprechend in seinem Oeuvre omnipräsent ist.
Wie uns die Critical Whiteness Studies inzwischen lehren, haben die in unserer Geschichte verwurzelten sozialen, kulturellen und rechtlichen Strukturen dazu beigetragen, das Axiom zu festigen, wonach Weiße privilegiert sind. Die Theorie der Weißen Überlegenheit wurde gesellschaftlich konstruiert, um die Diskriminierung von Nicht-Weißen zu rechtfertigen. Die Weiße Vorherrschaft ist ein weiteres Problemfeld, das aus der Geschichte der Kolonialisierung folgt und in der aktuellen Ausstellung thematisiert wird.
In der Fotoserie Whiteness ethnography werden historische Archivbilder von der kolonialen Inbesitznahme des Gebiets des heutigen Namibias und dem Genozid an den OvaHerero und Nama durch den Vernichtungsbefehl General Lothar von Trothas, gezeigt. Auf dem einen Foto ist das Denkmal für den deutschen Kolonialoffizier Hermann von Wissmann zu sehen. Die weißen Kreise auf den Bildern sind aus Efun gemalt, einer weißen Kreide, die sich aus gemahlenen Schneckenschalen und weißem Ton zusammensetzt. Es handelt sich um ein auf dem afrikanischen Kontinent weit verbreitetes Material, das hier auf diversen Ebenen interpretiert werden kann. Einerseits ist es ein weiterer Kommentar zur Vorherrschaft des Weißen Mannes, wenn der Bezug zur geometrischen Faszination der Neokonkreten Kunstschule, die im Brasilien der 1960er Jahre vorherrschend war, berücksichtigt und dabei die Tatsache in Erwägung gezogen wird, dass die Protagonisten dieser Bewegung zumeist Weiße Künstler aus privilegierten Verhältnissen waren. Andererseits aber kann dies als rituelle Geste, fast als Exorzismus der Vergangenheit, ja als gutes Omen gesehen werden, da Efun bei den Yoruba in Nigeria zur Reinigung, zum Schutz von Gegenständen und Menschen sowie zur Abwehr negativer Energien verwendet wird.
[1]. Warhaftige Historia und beschreibung eyner Landtschafft der Wilden Nacketen, Grimmigen Menschfresser-Leuthen in der Newenwelt America gelegen.
Der Aspekt des Buchs, der von der Erstveröffentlichung an bis heute die größte Aufmerksamkeit an sich gezogen hat, war der Kannibalismus. Staden behauptete, dass die Tupi Kannibalen seien, und lieferte einen Augenzeugenbericht über die Tötung, kulinarische Zubereitung und den Verzehr von Kriegsgefangenen. Einige Wissenschaftler*innen stellten allerdings die Glaubwürdigkeit des Buchs in Frage und gingen davon aus, dass Staden die Geschichten über den Kannibalismus erfunden habe. Andere hingegen hielten den Band für eine wichtige und glaubwürdige ethnohistorische Quelle. Darcy Riberio, ein brasilianischer Anthropologe, schreibt in seinem Buch “Brasilianische Menschen”, dass Hans dreimal von den Tupi gefangen genommen, aber nicht gegessen wurde, weil er um sein Leben flehte, was er auch in einigen seiner Zeichnungen darstellte. Da der Kannibalismus bei den Tupi eng mit Mut und Würde verbunden war, mussten gefangene Krieger, um ihre Rolle aufrechtzuerhalten, nüchterne und würdevolle Gespräche mit ihren Mördern führen.
[2]. Kiki Mazzucchelli anlässlich des Projekts Noticias de America von Paulo Nazareth. Katalog Paulo Nazareth, Arte Contemporânea/LTDA.