(De) Wenn im Spätherbst in Rom die Sonne untergeht, erscheinen am Himmel oft gigantische Schleier, die aussehen wie kleine Tornados. Schwärme von Staren rauschen dann durch die Luft, sie ziehen sich zusammen und auseinander, erscheinen erst hellgrau und dann pechschwarz. Egal wie eilig man es hat, die geisterhafte Wirkung ihrer Choreografie zwingt einen dazu, stehenzubleiben und den Blick gen Himmel zu richten. Die Vögel achten dabei nur auf die Bewegung ihrer direkten Nachbarn, das große Ganze ergibt sich daraus wie von allein.
Vögel, reduziert auf ihre einfachste Form, bevölkern auch die Gemälde von Jan Zöller. Oft sind sie ausgestattet mit Hosen, Schuhen, mal mit Werkzeug, jüngst auch mit Zweigen und anderen Naturelementen, manchmal auch mit Armen, zuweilen fliegen diese menschlichen Attribute aber auch einfach irgendwo im Bild durch die Luft – sind schon wieder auf dem Weg woanders hin. Weder die Reduziertheit noch die Farbigkeit von Zöllers Bildern hat etwas mit dieser römischen Abendromantik zu tun, aber die Starenschwärme führen zu Fragen, mit denen uns auch seine Arbeiten konfrontieren: Wie ist es möglich, eine kollektive Bewegung einzugehen? Wie entsteht aus vielen kleinen Entscheidungen und Regungen ein temporäres Gemeinsames – und wie fragil ist das?
Betritt man die Galerie Meyer Riegger, in der vom 22. März bis 4. Mai 2024 Zöllers Ausstellung Wherever You Go, There You Are zu sehen ist, dann geben ein Geländer, darum verteilte Überbleibsel sowie eine Sound-Installation Hinweise darauf, dass hier vor nicht allzu langer Zeit etwas stattgefunden haben muss – ein Ereignis, das diese Spuren hinterlassen hat und bei dem Performer*innen dem Problem des Gleichgewichts zwischen individueller und kollektiver Bewegung bereits körperlich nachgespürt haben.
Die Vögel, die in Zöllers Gemälden als Stellvertreter für bestimmte Typen auftauchen, weder Tier noch Mensch, und die Hosenbeine, die immer auf dem Weg irgendwohin zu sein scheinen, sie erinnern zuweilen an die Funktion, die die Kapuzenköpfe in den Bildern Philip Gustons einnehmen – und auch körperlose Beine, Schuhe und Uhren tauchen bei beiden auf. Ihre spitzen, dreieckigen Schnäbel erinnern an die konstruktivistischen Arbeiten der russischen Avantgarde. Sowieso versteht es Zöller, sein Schaffen im Kanon zu verorten, neben Kippenberger, Förg und Lasker, um nur wenige Beispiele zu nennen – wobei das kein singuläres, isoliertes Sich-Verorten ist, sondern eher das Fortführen einer gemeinsamen Idee, eine Art der Kommunikation über Generationen hinweg. In Zöllers Bildern geht es, wie bei den Staren am Himmel Roms, um das Aufeinanderachten und -bezugnehmen. Jede kleine Bewegung ändert das große Ganze.
In den neuen großformatigen Malereien, die Zöller nun erstmals bei Meyer Riegger zeigt, führt er seine Motivik näher an die Grenze zur Abstraktion. Einzelne Hosenbeine werden gar ganz zur abstrakten Fläche. Kohlezeichnungen übermalt er mit Holzbeize und verunklart damit Vorder- und Hintergrund. Erstmals verwendet Zöller auch Ölfarbe. Dieses gestische Spiel mit der Farbe führt zu einer Gleichzeitigkeit des Auftauchens und Verschwindens der Figuren im Bild: Es gibt tragende Elemente, auf denen Zöller seine Figuren zum Erscheinen und zur Bewegung bringt. Balanceobjekte, auf denen seine Figuren lebendig werden, Entscheidungen treffen und mit Werkzeugen oder Zweigen in den Armen Wege suchen und unentschlossen beschreiten – denn es gäbe ja potentiell noch viele andere Richtungen zu gehen. Und dann sind da die Übermalungen, die Transparenz, die Dopplung bis hin zur Überlagerung von Motiven sowie die schwungvoll sich kräuselnden Linien, die chaotischen Gehirnströmen oder verknoteten Schnürsenkeln ähneln, mithilfe derer Zöller das Figürliche ins Abstrakte verschiebt. Die Figuren, die Linien und die Farben zerren aneinander und sie stützen sich, und in diesem Hin und Her, im Dazwischen von Loslassen und Halten, entsteht das Bild als prekäre, kollektive Einheit.
Bereits in den früheren Arbeiten Zöllers hasten Ellbogen und Hosenbeine eilig durchs Bild. Gerade noch hier, müsste man eigentlich doch schon längst woanders sein. Durch dieses Holpern und Stolpern überlagern sich in seinen Bildern unterschiedliche Ebenen von Zeit. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fallen ineinander. Gerade noch hier, müsste man eigentlich doch schon längst woanders gewesen sein werden. In den neuen Großformaten erreicht dieses Getriebensein einen neuen Höhepunkt, es wird existenzieller. Die Eile ist nun nicht mehr zwischen den Figuren, sie ist in den Figuren und vibriert gleichzeitig im gesamten Bildraum.
Was passiert, wenn das Gleichgewicht dieses temporären „Wirs” auseinanderfällt?
Wir werden gemeinsam gewesen sein.
Text: Alicja Schindler