(De) Gedanken zu den neuen Gruppenbildern von Armin Boehm Als ich noch sehr klein war, vielleicht drei oder vier Jahre alt, verbrachte ich lange Sonntag-Nachmittage, an denen nicht geredet und gelacht werden durfte, vor der Regalwand meiner Grosseltern und blätterte ängstlich schweigend in den schweren Kunstbänden herum. Hier entdeckte ich eines Tages ein Bild, das mich besonders fesselte, weil es so unbeholfen gemalt war: Ein Gruppenbild, in dem - perspektivisch völlig falsch - ziemlich viele …
(De) Gedanken zu den neuen Gruppenbildern von Armin Boehm
Als ich noch sehr klein war, vielleicht drei oder vier Jahre alt, verbrachte ich lange Sonntag-Nachmittage, an denen nicht geredet und gelacht werden durfte, vor der Regalwand meiner Grosseltern und blätterte ängstlich schweigend in den schweren Kunstbänden herum. Hier entdeckte ich eines Tages ein Bild, das mich besonders fesselte, weil es so unbeholfen gemalt war: Ein Gruppenbild, in dem - perspektivisch völlig falsch - ziemlich viele Männer und wenige Frauen in seltsamer Körperhaltung angeordnet waren. „Hanc tabulam gallina pinxit“*, flüsterte ich und stellte das Buch wütend ins Regal zurück.
Als ich dieses Bild, Au rendez-vous des amis von Max Ernst, einige Jahre später in einem Museum in Köln betrachtete, war ich natürlich schon viel reifer und verständiger, und ich fand es nun sogar so gut, dass ich stundenlang davorstand und in einen immer lauter werdenden Singsang verfiel: „Wie schön wäre es doch, in dieser Zeit, in den Zwanziger Jahren, in Paris, gelebt zu haben, und eine der auf diesem Bild dargestellten Personen gewesen zu sein!“, wiederholte ich mantrahaft, immer schneller und lauter werdend, bis ich vom alarmierten Wächter zum Ausgang gebracht wurde.
Zu meiner Entschuldigung muss man sagen, dass ich nicht der einzige Mensch mit dieser Obsession bin, und Woody Allen hat vor ein paar Jahren sogar einen (leider nur mittelmässigen) Film aus dieser Idee gemacht. Und ausserdem weiss jeder kluge Mensch, dass es ja eigentlich falsch ist, sich nach alten Zeiten zu sehnen, weil die Zeit, in der wir heute leben, natürlich genauso schön und interessant ist wie vor fünfzig oder hundert Jahren. Wahrscheinlich ist sie sogar noch viel schöner und interessanter! Und sehr wahrscheinlich ist dies sogar die schönste, interessanteste und glücklichste Zeit, in der je Menschen gelebt haben!
Wenn also in achtzig oder hundert Jahren wieder ein schmaler, hüstelnder Student in einem Museum vor den Gemälden von Armin Boehm steht, auf denen dieser jetzt, in diesen Spätsommerwochen des Jahres 2015, die bedeutendsten Menschen seiner Zeit festhält, und sich dieser Student in diese Epoche in Berlin zurückwünscht, dann werde ich aus meinem Rahmen treten und ihn behutsam nach draussen bringen und zu ihm sagen: „Du hast recht, es ist richtig, sich an die grössten Männer der Vergangenheit zu halten, aber jetzt, 2115, ist das Leben in dieser herrlichen, baustellenlosen Gigapole namens New-Deutschtown noch viel schöner als damals, als diese Stadt noch Berlin hiess. Und nun geh hinaus und lebe und schaffe…“
Rafael Horzon
- Dies Bild hat ein Huhn gemalt