(De) Die Aprilsonne stand jetzt schon hoch am Himmel, strahlte in ihrem vollen Glanze und erwärmte die fruchtbare Erde. Aus ihren nährenden Lenden sproß das Leben hervor; die platzenden Knospen entfalteten sich zu grünen Blättern; die Felder erzitterten unter dem üppigen Gedeihen der Gräser. Allenthalben füllten sich und wuchsen die Körner und sprengten die Erde in ihrem mächtigen Bedürfnis nach Licht und Wärme. Ein Überströmen der Säfte floß in Flüsterstimmen dahin; das Geräusch der Keime verbreitete sich in einem unermeßlichen Kusse. Die Kameraden hieben noch immer darauf los, immer vernehmlicher, als hätten sie sich dem Erdboden genähert. Mit diesem Geräusche war die Landschaft schwanger, die im Sonnenglanze dieses Frühlingsmorgens dalag. Es erstanden Menschen, eine schwarze Rächerarmee, die langsam in den Furchen keimte, für die Ernten des künftigen Jahrhunderts emporwachsend, deren Keimen alsbald die Erde durchbrechen sollte. (Auszug aus Germinal von Émile Zola, 1895)
Am Ende seines 1987 erschienenen Essays „Was ist der schöpferische Akt?“ stellt Gilles Deleuze die Frage: „Welche Beziehung besteht zwischen dem Kampf der Menschen und dem Kunstwerk?“ Er führt aus: „Für mich ist dies die geheimnisvollste Beziehung überhaupt. Es ist genau das, was Paul Klee meinte, als er sagte: »Wissen Sie, uns trägt kein Volk.« Das Volk fehlt und fehlt gleichzeitig nicht.“ Für Deleuze gibt es eine Affinität zwischen dem Kunstwerk und einem Volk, das noch nicht existiert, aber es ist eine, die sich – so behauptet er – nie klar bestimmen lässt.
In seiner aktuellen Ausstellung mit dem Titel „LOVED UNDERGROUND“ präsentiert David Thorpe eine Serie neuer Rohrskulpturen und an der Wand hängende Fresko-Tafeln. Die von innen nach außen modellierten Werkreihen sind jeweils von Grund auf in Handarbeit unter Benutzung von ausschließlich nichtsynthetischen Materialien – Lehm, Naturfarbstoffen, Knochenleim, Löschkalk, Haselstrauchzweigen und Kasein – geformt.
Thorpes Rohrsegmente bilden Paare oder stehen für sich alleine. Die in unregelmäßigen Abständen an den Galeriewänden wie in einer Wiege platzierten Stücke wirken, als seien sie quasi in Wartestellung, als stelle deren jetzige Konstellation lediglich einen Augenblick in der geduldigen, steten Ansammlung eines wachsenden Arsenals dar. Während sie noch nass und formbar sind, werden in die Lehmoberflächen der Rohre verschlungene Muster aus der Natur eingearbeitet: Um die Außenschichten der Rohre kreisen und tanzen Blätter, Zweige und Blumen und hüllen sie komplett ein, wenn die vergangene Arbeit erstarrt und sich in eine herrliche, tarnungsähnliche Schutzhaut für die Zukunft verwandelt.
Thorpes lebhafte, ebenfalls aus den Grundstoffen der Erde geschaffenen Fresken sind jedoch auf diese Weise nicht italienischer Herkunft. Indem sie spiralförmige, stachelige Zweige und robust wuchernde Wildfrüchte abbilden, rücken sie eine hybride, fruchtbare, aber trotzig unerfahrbare Welt in den Fokus, in der Pflanzen, Menschen und Tiere einen seltsamen, aber fröhlichen Reigen bilden. In Thorpes unzweideutigem Darstellungsgestus, der die Farbtöne bis in die Spitze einer jeden Knospe sprießen lässt, wird das Leben – zumindest hier – in vollen Zügen ausgelebt. So erscheint es fast unvermeidbar, dass, je mehr diese in sich verschmolzene Welt im Wachsen und Werden begriffen ist und je mehr sie daraus ihre Kraft schöpft, sie sich umso deutlicher von dem stechenden Blick der menschlichen Zivilisation und deren einengendem Kategorisierungswillen entfernt.
Während Thorpes Fresken Augenblicke der jauchzenden Ausgelassenheit und des ungezügelt ausgekosteten Daseins vermitteln, beziehen sich die Rohre eher auf die Pragmatik und Arbeitsschritte, die dazugehören, dieses Lebensziel zu erreichen. Für Thorpe bedeutet dies zunächst – in Anlehnung an die Tradition sozialistischer Mythen und Folklore – die Flucht aus der Aktualität und den Rückzug an die Randlagen der Welt. Während die Rohrleitungen der Schwerindustrie und die schrecklichen Spielereien der Geopolitik die Erde etwa mit Frackingvorgängen auseinanderreißen, liefern sich Thorpes Rohre eher einem Dominiertwerden durch die Natur aus, wobei sie das verlorengegangene Gleichgewicht leicht ausbalancieren und ein Gegengewicht offerieren. Sie künden von Funktionen, die eher denen von grandiosen Arterien ähneln, die das Lebendige in die Schutzenklave des Waldes oder in den Untergrund hinführen. Dorthin, wo es sich fern dem staatlichen Blick und Zugriff wieder sammeln kann, um eines Tages erquickt und radikalisiert zurückzukehren. Man denke etwa an die Rückzugs- und Ausstiegspraxis eines Henry David Thoreau, der das Sichzurückziehen als befähigende Handlung, als kritischen Ort auffasste, wo das Vergessene, Verlorengegangene zurückgewonnen werden sollte, wo man sich von der entfremdeten Lebenswelt der Moderne und deren Ansatz einer positiven Dialektik, die zwecks Macht und Kontrolle Ding und Bedeutung – zwangsläufig einengend – miteinander versöhnen wollte, erholen konnte.
Frühere Werke von Thorpe kennzeichneten sich häufig dadurch aus, dass ein Objekt von sich aus ein inneres Glühen verströmt. Unabhängig davon, ob dies von einer Licht-, Ton- oder Farbquelle kam, fühlte man sich an ein Herz erinnert, oder allgemeiner vielleicht an die würdevolle, unumstößliche Unfassbarkeit des Kunstwerks an sich, an sein Potenzial einer autarken Autonomie, die jenseits jeglicher erzwungener Ideologie herangewachsen war. In der Modularität des Rohrs hingegen vollzieht sich eine Verschiebung zugunsten des Kollektiven. Die Rohre künden von einer Bereitschaft, auf Individualität zu verzichten, um im gefestigten und verzweigten Miteinander eine gemeinsame Aufgabe von Grund auf anzugehen.
Wenn die Rohre als Arterien zu lesen sind, die Blut zum und aus dem Herzen pumpen, so fällt es auf, dass das „Herz“ hier letztendlich hintangestellt wird und nur mittels eines stellvertretenden Symbols in Erscheinung tritt. In einem noch kapitalistisch geprägten Umfeld ist die Liebe oder eine Haltung der sorgenden Zuwendung anscheinend noch hoffnungslos kompromittiert. Welche Möglichkeiten gibt es also noch? Für Deleuze zumindest scheint das Kunstwerk als eine Art Kommuniqué durch Zeit und Raum zu fungieren. Indem er die Idee eines kollektiven Sinns oder Raums entwirft, möchte er Ideen als „Formen von Potenzialen, als geweihte Potenziale“ verstanden wissen. Über das Medium oder Gefäß des Kunstwerks lösen sich Ideen von dem einen Körper, um in einen kollektiven Raum einzutreten, wo sie infolge einer späteren Begegnung zu einem anderen Zeitpunkt und in anderer Form reaktiviert werden können. Wenn sich die Marx’sche Idee einer kristallisierten Arbeitsmasse positiv lesen lässt, wenn die Arbeit mit Freude durchgeführt wird und eine fröhliche ist, die ihrem Gegenstand Zuwendung und Liebe angedeihen lässt, so könnte man das Kunstobjekt entsprechend als eine Art Lagerhaus oder Speicher auffassen, der zu einem späteren Zeitpunkt bei der Begegnung und Anknüpfung an Übereinstimmendes und Konsensbildendes neu geöffnet und reaktiviert werden könnte. Thorpes Rohre streben danach, Verbindungen einzugehen, Neues aufzubauen. Wenn die Liebe unter kapitalistischer Kontrolle zum Ding der Unmöglichkeit wird, dann bleibt einem nichts anderes übrig als sich in den Untergrund zu werfen, selbst wenn die Frage nach der geglückten Begegnung im Hier und Jetzt offen bleibt, oder selbst wenn, um mit Klee zu reden, »uns kein Volk trägt«.
Text: Gili Tal