An der Westküste von Taketomi, einer Insel des Yaeyama-Archipels im Süden der See-Präfektur Okinawa, steht ein Felsen. Der von den rhythmischen Bewegungen der Gezeiten umspülte, „Niran“ genannte Einzelstein ist anders als vergleichbare Findlinge. Er ragt aus dem Meer empor, aufrecht, als sei er eine auf ein Podest aus versteinertem Korallenriff aufgestellte Skulptur. Seine große Anziehungskraft und Ausstrahlung rühren daher, dass es sich um einen heiligen, sakralen Felsen handelt. Wer sich länger mit dem kultischen Stein befasst, findet heraus, dass er eine zentrale Rolle in den spirituellen Zeremonien spielt, die von den Schamaninnen der Insel durchgeführt werden.

Fast unauffindbar versteckt am äußersten südlichen Zipfel des japanischen Inselreichs, sind die Yaeyama-Inseln dafür bekannt, dass sie von matriarchalisch geprägten Gemeinschaften bewohnt sind. Heilige Steine wie der Niran sind verstreut über die ganze Inselgruppe zu finden und konstituieren eine spirituelle Topografie der Inselwelt. Die so geheimnisvollen wie faszinierenden Menhire stellen das Gravitationszentrum eines Glaubenssystems dar, das aus einer hybriden Zusammensetzung von Shintoismus, Buddhismus und chinesischer sowie mikronesischer Mythologie besteht. Die Oberhäupter der jeweiligen Inselgemeinschaften sind häufig weibliche spirituelle Führungsfiguren, Schamaninnen, die als Mittlerinnen zwischen der Natur- und der Menschenwelt fungieren. Die sakralen Felsen sind dabei Stätten und Gefäße, denen möglicherweise Geister innewohnen, die bei den schamanistischen Ritualen mit den Menschen in Verbindung treten können.

Seit 2016 kehrt der Fotograf und Video-Künstler Melvin Moti regelmäßig im Rahmen eines noch unabgeschlossenen Forschungsprojekts an die Yaeyama-Inseln zurück, wo er die Rolle von Felsen an der Grenze zwischen der wilden, noch ungezähmten Natur und den von Menschenhand geformten Landschaften untersucht. Für seinen neuesten Film, Interwoven [Ineinander verwoben], hat Moti über 30.000 Aufnahmen von dem Niran-Stein und anderen heiligen Felsen auf mehreren der Yaeyama-Inseln zusammengefügt. Die Geschichten, mündlichen Erzählungen und Mythologien, die sich um die Felsen ranken, weisen auf die seit Urzeiten gegebene Rolle des Storytelling als Mittel der kulturellen Identitätsfindung hin.

Eine zweite wesentliche Komponente der schamanisch-spirituellen Praxis auf den Yaeyama-Inseln ist die Tätigkeit des Stoffwebens. Infolge einer raffinierten und langwierigen Prozedur, in der zuerst Garn aus den Fasern des Bananenbaums gesponnen und Farbstoffe von einheimischen Pflanzen gewonnen werden müssen, bevor die so produzierten und vorgefärbten Fäden mit der komplexen Doppel-Ikat-Technik zu Stoff gewebt werden, ist jedes einzelne Stück Gewebe mehrere Jahre in der Herstellung. Die fertigen Textilien werden von den Schamaninnen bei ihren Ritualen getragen und spiegeln die enge Beziehung zwischen den Mittlerinnen und der Inselnatur wider. In der Tat: Jedes Exemplar dieser aus kleinen Portionen der Naturwelt sorgfältig kreierten Stoffe beinhaltet eine lange Meditation über Zeit und Zeitlichkeit. Als Begleitmaterial zum Film wird eine neue Serie handgewebter Textilien von den Yaeyama-Inseln präsentiert. Der Künstler betrachtet sie als zeitbasiertes Medium.

Anlässlich der Ausstellung erscheint ein selbstverlegtes Künstlerbuch mit Aufzeichnungen, Fotos und Forschungserträgen.

Text: Melvin Moti