(De) Das Ausstellungsjahr 2018 beginnt in der Karlsruher Galerie mit einer Premiere – der ersten Einzelausstellung des israelischen Künstlers Ariel Schlesinger bei Meyer Riegger. 1980 in Jerusalem geboren, lebt und arbeitet Schlesinger heute in Berlin und Mexiko-City.Schwerpunkt seiner künstlerischen Praxis ist die Verfremdung von gefundenen Objekten und Alltagsgegenständen, mitunter außergewöhnlich kombiniert, wird eine ebenso irritierende wie humorvolle, bisweilen aber auch bedrohliche Wirkung erzielt. Für seine Installation A Car Full of Gas erhielt Schlesinger 2012 die Auszeichnung „VHV-Künstler des Jahres“ und vergangenes Jahr gewann seine Bewerbung das Kunst am Bau-Projekt vor dem neu-renovierten Jüdischen Museum in Frankfurt a.M. Die elf Meter hohe Skulptur zweier miteinander verwachsener Bäume soll im Laufe dieses Jahr errichtet werden. Mit ‚Objects that are not me’ (‚Objekte, die nicht ich sind’) zeigt Schlesinger bis Ende Februar drei Werkgruppen mit neuen Arbeiten. Teils Weiterentwicklungen bereits bestehender Konzepte, beginnt die Ausstellung im ersten Raum mit großformatigen Arbeiten aus verbranntem Papier, die dieses Jahr entstanden sind. Dabei sind jeweils zwei oder drei Papierbögen, von Brandflecken durchlöchert, derart ineinander verschoben, dass ein regelmäßiges Muster entsteht und das Papier einem gewebten Stoff ähnelt. Das vor einen gelben Leinenstoff gespannte und mit Feuer zerstörte Papier erscheint durch die Brandkontur und die ineinander gewebten Papierbahnen geradezu organisch und lebendig. Einen ähnlichen Eindruck vermittelt die surrealistisch anmutende Brille aus Messing im Zwischentrakt der Ausstellung. An der Wand montiert und sofort als Brille erkennbar, sorgt der Gegenstand bei genauerem Hinsehen für Irritation. Denn die Brille besteht eigentlich aus zwei ineinander geschobenen, fast identischen Brillen. Die Sicht des Betrachters muss sich dadurch, wie auch die Sicht des vermeintlichen Brillenträgers, umstellen. Sowohl das Spiel mit der Irritation als auch die Verschmelzung von mehreren gleichartigen Objekten zu einem neuen und die dadurch entstehenden Assoziationsketten sind charakteristisch für das Werk von Schlesinger und geben seinen Arbeiten einen erzählerischen Impetus. Im hintersten Raum der Galerie befindet sich die Rauminstallation “I’d like to buy the world a home and furnish it with love…”. Der Künstler hat hier ein Feld von mexikanischen Coca-Cola-Flaschen auf dem Boden angelegt und die Flaschen mit einem Gemisch aus Gas und Cola gefüllt. Für die Flaschenöffnungen hat der Künstler je eine spezielle Apparatur entwickelt, aus der eine Flamme entsteigt. Atmosphärisch wird der Ausstellungsraum zu einer beklemmenden Gedenkstätte. Der Titel der Arbeit bezieht sich auf einen berühmten Coca-Cola-Werbespot von 1971. In dem Spot stehen junge Menschen aus aller Welt nebeneinander. Jeder hält eine Cola-Flasche in der Hand. Gemeinsam singen sie den Werbesong, dessen erste Zeile auch der Titel von Schlesingers Arbeit ist: “I’d like to buy the world a home and furnish it with love…“. Schlesinger hat diese Zeile des Songs gewählt, weil sie eine Art erzwungene Harmonie beschreibt. Die Ausstellung begleitet ein Text von Sarah Demeuse, den sie speziell für diesen Anlass verfasst hat.
“I’d like to buy the world a home and furnish it with love…”
Da steht dieses Foto auf dem Kühlschrank.
Es ist das Erste, was ich sehe, wenn ich Eiswürfel holen gehe. Es zeigt die wiedervereinte Familie, Ende der 1980er Jahre. Ein ungewöhnliches, fast unwahrscheinliches Ereignis. Die fünf Familienmitglieder sitzen an einem runden Tisch und haben sich zur einen Seite hin aneinandergeschmiegt. Da sie gerade eine vollständige Mahlzeit gegessen haben, lächeln sie zufrieden. Die Teller sind bereits weggeräumt, einige nicht benutzte Servierutensilien sowie ein gehäkelter Untersetzer liegen noch auf dem Tisch.
Das ist aber nicht das Foto, nicht wirklich.
Schwerpunktmäßiger Mittelpunkt dieser Komposition ist die überdimensionierte, zu drei Vierteln ausgetrunkene Cola-Flasche. Es handelt sich um die 3-Liter-Variante, eine Seltenheit, die senkrecht in kein normales Kühlschrankfach passt. In der Reihe der Gesichter steht sie aufrecht zwischen dem Onkel, den ich nie getroffen habe, und einer Cousine zweiten Grades in den frühen Teenagerjahren. Die Flasche ist etwa so groß wie ihr Torso. Es ist komisch, dass dieses Ungetüm, dieses Mastodon, anscheinend weder für die Person, die das Foto machte, noch für die Menschen in der Aufnahme da war – und sie auch nicht störte. Vermutlich würde es ihnen immer noch nicht auffallen, wenn sie das Foto jetzt betrachteten. Für mich ist es das Allererste, was ich sehe. Für sie ist der Fotoabzug der Platzhalter eines Augenblicks; für mich ist er ein Bild.
Ich frage mich, wie es ihnen gelungen ist, das Gespräch um das Mastodon herum zu manövrieren. Vermutlich ist es für die Dinierenden schnell unsichtbar geworden, ähnlich wie es mit den Körper der anderen Zuschauer im Kino geschieht. Nach etwa zehn Minuten des Films findet man heraus, wie man die Leinwand fokussiert und so eher das vollständige Bild sieht, ohne von den Köpfen oder Schultern, die vor einem sind, gestört zu werden. Erst wenn die Leinwand tatsächlich Menschen, die in einem Kino sitzen, zeigt, wird man wieder dessen gewahr, was vor einem ist. Als partizipierende Zuschauer einer ununterbrochenen Flut unmittelbarer visueller Erfahrung sind wir es gewohnt, um Hindernisse herum zu arbeiten und diese effektiv auszuradieren. Selbst wenn wir zugewiesene, nummerierte Sitzplätze haben. Dies gilt allerdings weniger bei Fotos, in denen sich Köpfe und Flaschen auf einer phänomenologisch ähnlichen Ebene befinden.
Hinzu kommt: Das satte Purpurrot der Coke-Flasche fungiert als erfolgreicher Blickfang, der mit der lächelnden Familie konkurriert. Wäre dies die Filmkulisse eines Krimis, so wäre der Schlüssel zur Auflösung des Falls für alle sichtbar auf dem Etikett versteckt.
Extrapoliert man von dieser überdimensionierten Flasche, so stellt sich die Frage: Wäre es möglich, dass Blumengestecke und Kronleuchter dazu da sind, um das Bild zu bestimmen, das man von der Tafel mit nach Hause nimmt?
Ich habe die Eiswürfel, die ich brauche, geholt. Zeit, zurück zu meinem Sessel zu gehen.
Sarah Demeuse