(De) Lassen wir mal alle Rücksichten und Konventionen fallen. Lassen wir mal kurz die Luft aus unseren übermäßig aufgepumpten Reifen raus. Lassen wir uns mal leicht ins Schwanken geraten während wir über den Boden schlittern und dabei bis zur Unkenntlichkeit verschwimmen. Lassen wir uns mal amorph und atmosphärisch sein. So macht es Lesley Vance in diesen neuen Aquarellbildern, in denen die Farbe die eigene Rechtfertigung liefert und der Pinselstrich durch eine Art automatisches Zeichnen zur Form und dann zur zunehmend filigranen Beschreibung von Raum wird. Die Künstlerin erkundet somit die eigene, diesig-dunstähnliche Formlosigkeit. Das verflüssigte, eher flach auf den glatten, pergamentähnlichen Flächen liegende als von ihnen absorbierte Pigment wirkt noch - wässerig, lebendig. Die Pinselführung ist aleatorisch und intuitiv, wobei die mäandernde Linienführung etwas an den späten de Kooning oder an den in Tusche getünchten Stift eines Brice Marden erinnert. Kontrapunktisch wird der Fluss der Wasserfarbe mit der Scherenschärfe einer Collage aufgeschnitten, abgeschnitten und mit gleichermaßen flinker Sensibilität neu angeordnet. Intensiv reflektiert hat die Künstlerin die collagierten Gemälde von Krasner, die voller interner Brüche und Distanz sind und von denen eine ungeheure graphische Macht ausgeht. Diese Gemälde verkörpern eine Alertheit, eine Empfänglichkeit für jene zerbrechlichen Geschenke des Zufalls, die sich auf – oder fern von – dem Zeichentisch ergeben, wenn man nur besonders wachsam ist. Lesley Vance arbeitet im Banne jener magischen Momente, in denen eine Form und eine neuartige Sichtweise sich erst herauskristallisieren, sich aus statischen Farbnetzen und -feldern herauslösen. Diese plötzliche Genese, die überraschende Erfindung von Formen, hat viel mit der Gefühlslage und Freude zu tun, die diesen Werken innewohnen – sie speisen bereits in den frühen, privaten Stadien des Kreierens von der in den Ölgemälden überbordenden Energie. Dabei entsteht Form oft aus einem subtraktiv entfernenden Wegwischen und Tilgen. Vances Bilder wollen mehreres auf einmal sein – sie wollen bluten, überschwappen, zucken, sich vollschmieren, wann immer sie nur möchten, aber auch perfekt straff, stramm, exakt und abgeschrägt sein. Ihre Bildflächen – ob gemalt oder collagiert – verschränken und verzahnen sich auf ungewohnte Art und Weise, wobei sie den Betrachter in den Bann einer vorübergehenden optischen Irritation ziehen, die Schichten ineinander fließen lässt und neu ordnet. Sie sagen: Lassen wir uns mal schlittern und schliddern. Lassen wir mal alle Rücksichten und Konventionen fallen.
Text: Sarah Lehrer-Graiwer
Werke von Lesley Vance (*1977, Milwaukee, Wisconsin, USA) waren Gegenstand von Einzelausstellungen im Bowdoin College Museum of Art, Brunswick, Maine (2012), in der FLAG Art Foundation, New York (2012) sowie in der Huntington Library, Art Collections and Botanical Gardens, San Marino, California, mit Ricky Swallow (2012). Zu den neueren Gruppenausstellungen, in denen ihre Werke zu sehen waren, gehören: Variations: Conversations in and around Abstract Painting, Los Angeles County Museum of Art (2014); Painter Painter, Walker Art Center, Minneapolis (2013); Difference, Dallas Museum of Art (2012); und 2010 Whitney Biennial, Whitney Museum of American Art, New York. Werke von Vance sind ebenfalls u.a. in den öffentlichen Sammlungen des Los Angeles County Museum of Art; des Hammer Museum, Los Angeles; des San Francisco Museum of Modern Art; des Milwaukee Art Museum, Wisconsin; des Museum of Modern Art, New York; und des Whitney Museum of American Art, New York vertreten. Gegenwärtig werden Werke von ihr in der Ausstellung Campaign for Art im San Francisco Museum of Modern Art bis Ende September 2016 gezeigt. Vance lebt und arbeitet in Los Angeles.