(De) niemand hat bislang bestimmen können, wozu der körper fähig ist
Mehr als dreieinhalb Jahrhunderte sind vergangen, seit Spinoza in seiner Ethik (verfasst etwa 1662-65) das Geheimnisvolle unserer Körper beschrieb: wie der menschliche Körper nach seinem eigenen Gesetz handelt, das sich weder durch die Gesetze der Natur noch durch die Bestimmungen des Geistes fixieren lässt. Trotz aller inzwischen erfolgten wissenschaftlichen Forschung und Innovation behält Spinozas Standpunkt nach wie vor überraschenderweise seine Gültigkeit. Auf seiner Reise durch die diversen Plateaus und Strata des Lebens produziert der Körper sich selbst ebenso viel, wie er von anderen Körpern produziert wird. Als Menschen haben wir unsere körperliche, politische und soziale Subjektivität in Mikro- und Makromodellen untergebracht – aber tagaus tagein sehen wir uns immer wieder mit den harten Fakten des Daseins konfrontiert. Obwohl diese Chemie des Alltags keineswegs zimperlich mit der Chemie des menschlichen Körpers umgeht, schenken uns sowohl der Raum von Unbestimmtheit, den Spinoza dem Bereich der menschlichen Affekte zuordnet, sowie die diversen Erscheinungsformen des Ungeregelten und Nicht-Regelkonformen unvorhergesehene Momente der Freiheit.
Eva Koťátkovás neue Serie The Unrooted: Sleeping woman going to battle besteht aus Zeichnungen, Kostümen (die vor Ort anprobiert und aktiviert werden dürfen) und Traumszenarien. Die Serie kann als zeitgenössisch-feministische, gaiaorientierte Antwort auf den vielzitierten Satz des Avantgarde-Autors Antonin Artaud aus dem Jahr 1947 über die Freiheit des nichtregulierten Körpers gesehen werden: „Wenn Du ihn zu einem Körper ohne Organe gemacht haben wirst, wirst Du ihn von allen automatischen Reaktionen befreit und ihn zu seiner wahren Freiheit wiederhergestellt haben“. In Koťátkovás grenzenlosem, von Mythen, Träumen und Märchen ausgeschmücktem Universum lässt sich der Körper von allen automatischen Reaktionen befreien, indem er eine Form des Widerstands leistet, der sich aus imaginären Welten, Wachträumen und nicht-gewöhnlichen Bewusstseinszuständen speist. Die Künstlerin greift spielerisch in die für selbstverständlich gehaltene Körperlichkeit und Leiblichkeit ein, sucht nach den Leerräumen im Inneren, und erzeugt daraufhin Formen und Räume, die diese Leere für eine andere Art des Überlebens am Rande der Welt nutzen würden.
Wie sehr sind wir Teil des Lebens, das wir leben? Wie sehr können wir unsere Lebenszeit zwischen einem Leben, das sich dem Tod zuneigen kann, und einem Tod, der sich dem Leben zuneigen kann, ergreifen? Die Metapher des „Entwurzeltseins“ spricht von einem Dazwischen, von einem Ort zwischen Leben und Tod. Es ist ein Ort des Zorns und der Verrückung, verortet in jener von Gramsci evozierten „Zeit der Monster“ zwischen einer alten, im Sterben liegenden und einer neuen, noch nicht geborenen Welt. Gleichzeitig ist es ein Ort des Erzählens und Sammelns von Geschichten, von Geschichten, die wie Medizin wirken, indem sie den Körper in seiner Freiheit, das Individuum und die Gemeinschaft bestärken. Auf dem Weg dorthin haben etliche alte Geschichten ihre diversen Lehren über Liebe, Sex, Geld, Ehe, Gebären, Tod und Verwandlung eingebüßt. Die meisten Märchensammlungen und Mythen wurden von ihren perversen, vorchristlichen, sexuellen Elementen sowie von ihren Rezepten, Vorschriften und Lösungsvorschlägen bereinigt. Bereitwillig in die Kontrollstrukturen des kapitalistischen Systems hineingezwängt und ausgebeutet, suchen wir Heutigen weiterhin nach solchen fehlenden alten Weisheiten, Informationen und Ritualen, nach anderen Sinngebungen, welche die binäre Logik zum Einsturz bringen.
Das westliche Denken der Neuzeit trennte Körper von Geist, Emotionalität von Rationalität, Spiritualität von der Realität des Alltags. Mit Bezug auf dieses Defizit in der Mainstream-Philosophie schrieb Luce Irigaray: „In unserer Tradition … wurde die Wahrheit allzu oft als etwas ausschließlich Verstandesmäßiges betrachtet, es sei denn, sie wurde als die Realität von natürlichen Wesen, von Gegenständen oder Dingen der Welt aufgefasst.“ Innerhalb von diesem Rahmen wurde dem menschlichen Verstand beigebracht, dass eine Veränderung nur dann als solche zu bezeichnen ist, wenn es sich um einen radikalen Bruch von einem Tag auf den nächsten handelt – aber eventuell lässt die Eigenart des menschlichen Geists einen so markanten Bruch nicht zu.
Dennoch besteht die Möglichkeit, sich nicht mit dieser Zweiteilung der Welt, diesen unüberbrückbaren Differenzen, binären Trennungen oder Gegensätzen von Arten und Gattungen zufrieden zu geben. Wie Xiang Zairong in einem zu Anfang der Pandemie verfassten Beitrag zu Recht geschrieben hat: „Glücklicherweise verfügt die Menschheit neben den ‚einfachen Ideen‘ von Descartes über ein enormes Reservoir an weiterführenden Vorstellungen und Philosophien, insbesondere an jenen Erkenntnistheorien, die das Vernunftdenken lange als unwissenschaftlich betrachtet hat. Indigene Kosmologien plädieren seit jeher dafür, dass wir die Welt als einen zusammenhängenden, lebendigen Organismus von höchster Komplexität, fragiler Belastbarkeit und sogar mit einem Nimbus des Geheimnisvollen auffassen und behandeln müssen.“
Die halbmenschlichen, halbwomxn, halbpflanzlichen Entwurzelten, die Eva Koťátková kreiert, sind agile, aufgewühlte, energisch-kraftvolle Charaktere. Sie entwerfen ihre Narrative im Inneren. Ihre Rationalität entspringt ihrer Emotionalität. Ihre Spiritualität ist in der Realität des politischen Alltags verankert. Sie schlafen, um hellwach zu sein. Sie weigern sich, sich einengen oder beschränken zu lassen. Sie stellen neue, androgyne Archetypen der „wild woman“ dar, die Clarissa Pinkola Estes seit längerem weltweit sammelt. Sie setzen sich mit einer Gegenwart auseinander, die sich immer in einem Prozess der Loslösung eines Zukünftigen von einem Vergangenen befindet, die aus einem Gefälle bzw. einem Hiatus besteht, der nie geschlossen oder ausgesöhnt werden kann. Sie erinnern uns daran, dass wir uns nicht mit dem Gegebenen abfinden sollten, sondern: auf unsere Träume und unser Träumen bestehen.
Text: Övül Ö. Durmusoglu
Übersetzung: Richard Humphrey