(De) Die Duoausstellung zeigt die Arbeiten der Textilkünstlerin Sheila Hicks und der Bildhauerin Katinka Bock erstmals im Dialog.
Auf den ersten Blick gibt es zwischen den beiden nicht viele Ähnlichkeiten: Hicks, 90 Jahre alt, geboren in Nebraska und Bock, 48 Jahre alt, geboren in Frankfurt am Main. Beide leben seit Jahren in Paris. Erstere arbeitet mit Wolle, Leinen und Seide, mit weichen Materialien. Bock verwendet Ton, Keramik, Glas, Holz, Stein, Kupfer, Bronze – manchmal aber auch Textilien.
Die Arbeiten von Bock sind immer ortsspezifisch, nehmen also Bezug auf den Raum. Je nach Ort und Zeit der Ausstellung sind ihre Werke einmalig. Mal wird eine Skulptur hängend, mal liegend präsentiert, dann im Außenraum oder lässig an die Wand gelehnt. Bevor die Künstlerin anfängt, für eine Schau zu arbeiten, sieht sie sich die Räume an und stellt sich Fragen, wie: Was fehlt hier? Und meist auch: Wie kann ich die Abgeschlossenheit dieses Raums aufbrechen? 2008 hat sie deshalb in einem Ausstellungsraum im französischen Delme ein Wassersystem installiert, weil das Team der Institution auf ihre Frage hin, an was es ihnen dort fehle, einhellig „Wasser” geantwortet hatte.
Bocks Wandarbeit Various horizons (2024), die sie in der Ausstellung erstmals zeigt, suggeriert eine Bergkette an einer Stelle, wo man sonst nur eine kahle Hausfassade sieht. Darüber strahlt die zitronengelb glasierte Keramik S-ol (2024). Die jeweils einen Meter langen Aluminiumteile von Various horizons sind, wie bei einem Zollstock, miteinander verbunden und können zusammen- und auseinandergeklappt werden. Weil die einzelnen Segmente aber mal mit mehr oder weniger Abstand montiert sind, kann die Aluminiumkonstruktion gar nicht den Zweck eines Zollstocks – das genaue Vermessen einer Strecke – erfüllen. Diese leichte Abwandlung beschreibt Bock als „Variabilität von einer Norm“. Durch das Messen wird ein Raum definiert und gegenüber anderen Bereichen abgegrenzt. Das Thema der Begrenzung ist zentral für Bock. Sie sagt: „Die Begrenzung zu betonen, ist sublim und brutal auf einmal. Das ist mehr als ein simples Infragestellen.“
Karten und Sternbilder dienen seit jeher dazu, das, was wir Menschen vermessen, eingrenzen und kartographieren, festzuhalten, und das Wissen darüber weiterzugeben. Den Jeansstoff für die Arbeit Mount Palomar (2023) setzte Bock in einer Langzeitbelichtung mehrere Tage und Nächte lang dem Wetter, der Sonne und dem Mond aus, sodass nun die Spuren von Licht und Schatten eines Pariser Winters auf ihm sichtbar sind. Die Keramiken, die sie, erinnernd an eine Himmelskonstellation, auf dem Stoff angebracht hat, sind Überbleibsel von größeren Werken, die Bock in ihrem Atelier sammelt. Damit sind sie Teil einer Geschichte und einer anderen Form, Versatzstücke, die ein neues Sein in dieser Komposition bekommen haben. Der Titel verweist auf das Buch Herr Palomar (1983) des italienischen Schriftstellers Italo Calvino, der seinen Protagonisten nach einer berühmten Sternwarte in Kalifornien – Mount Palomar – benannt hat. Wie die Künstlerin auch, ist Herr Palomar ein aufmerksamer Beobachter, der „die winzigen Fakten des täglichen Lebens aus einer kosmischen Perspektive sieht“. Die größere Keramik unten links wirkt so, als würde sie durch ein Teleskop nach oben in den Sternhimmel schauen. Auch Herr Palomar ist fasziniert vom Saturn, den er durch ein Teleskop betrachtet.
Nach der mikroskopischen Betrachtung eines Grasfeldes gerät Calvinos Figur des Palomar in Aufruhr: Wie kann man die „materielle Konsistenz“ der Welt überhaupt richtig erfassen? Die Fotografie For Your Eyes Only (A) (2017) zeigt einen Teil eines nackten Beins, auf dem der Abdruck einer zu engen Socke – oder ist es der Abdruck von Gras auf der Haut – gerade zu verschwinden droht. Bocks Arbeiten spiegeln dieses Abtasten des Unendlichen in einer Denkbewegung zwischen dem mikroskopisch Kleinen hin zum allumspannend Großen. Die Künstlerin selbst sagt: „Himmel und Meer sind konkrete Gegebenheiten, die zugleich für eine Sehnsucht und einen Horizont stehen. Möglicherweise will die Skulptur sogar diese Ambivalenz erreichen.“
Das klingt poetisch, Bocks Arbeiten sind aber weder symbolisch, noch metaphorisch. Sie stehen nicht für etwas anderes, sondern nur für sich selbst – ihr Material. Wie Bock schreibt: „Mich interessiert es, dass eine Zitrone eine Zitrone ist.“ Das Material, sei es eine Zitrone, Kupfer oder Bronze, nutzt sie als Stoff wie in einer Versuchsanordnung. Beschreibt man ihre Werke, spricht man unweigerlich von chemischen oder physikalischen Prozessen: Sie sind oxidiert, verbrannt, verdunstet – oder gar explodiert, so wie die Bronze Ginny (2018), eigentlich die Form eines Karpfens, die beim Gießen explodiert ist.
Während Bocks Arbeiten ausgehend von der Immanenz des Hier und Jetzt ihre Bezüge entfalten, knüpfen die Werke von Sheila Hicks unverwandt an das Metaphorische an. Der amerikanische Kunstkritiker Arthur Danto spricht in seinem 2006 erschienenen Essay über Hicks, „Weben als Metapher und Modell für soziales Denken“, von der altgriechischen Vorstellung des Webens als Analogie für die Polis, den Staat: ein fein verwobenes Netz von Abhängigkeiten.
Wie Bocks Werke, sind auch Hicks Arbeiten meist ortsspezifisch: Zu einem Turm aufeinandergestapelte Stoffballen baut sie zum Beispiel so in den Ausstellungsraum hinein, dass sie die Architektur zu stützen scheinen. Ihre Werke, stets aus den weichen Materialien wie Wolle, Leinen oder Seide, treten dabei jedoch direkt in einen Dialog mit der Architektur als solche, und weniger mit den gesellschaftlichen und historischen Bezügen, die diesen zugrunde liegen, wie das bei Bock der Fall ist. Abhängig von den Gegebenheiten und den Kräften im Raum sind Hicks Werke trotzdem auch – vor allem von der Schwerkraft. Oft hängen die Schnüre oder Stoffnetze ihrer Arbeiten vertikal von der Decke oder von ihren Trägern und falten sich dann üppig auf dem Boden übereinander, so wie in der Arbeit not yet titled (2024), die in der Ausstellung zu sehen ist.
Hicks studierte in den 1950er Jahren in Yale bei dem Bauhaus-Maler Josef Albers, der für seine Farbtheorie bekannt ist, lebte in Mexiko und reiste durch Länder Südamerikas, um sich traditionelle Techniken der Webkunst anzueignen. Die modernistische Schule des Bauhaus, die die Unterscheidung zwischen bildender Kunst, Dekoration und Design für überholt erklärt, führt Hicks in ihrem Werk fort. Textil als Material ist dafür ein geeignetes Bindeglied: Es kommt sowohl im Alltag, in der Kleidung und der Inneneinrichtung vor, aber bietet in der Verwendung als Stoff für Leinwände auch einen Bezug zur klassischen Malerei.
Obwohl sie sich schon früh der Textilkunst zuwandte, manifestiert sich die Malerei als künstlerische Basis bis heute in Hicks Werken. Untitled (2024) lehnt sich an die Tradition der abstrakten Malerei an. Durch die Verbindung verschiedenfarbiger Leinenschnüre erzielt Hicks subtile, oszillierende Farbeffekte. Im Gegensatz zur Malerei sind Bildträger und Farbe jedoch nicht getrennt, sondern bilden eine Einheit.
Farbe spielt bei Hicks wie bei Bock eine Rolle. Während es Bock aber einige Überwindung kostet, wie sie selbst sagt, ihrem künstlerischen Kosmos eine neue Farbe hinzuzufügen – bislang verwendet sie in erster Linie Blau, und das Gelb, das in der Ausstellung zu sehen ist, ist eine Neuerung – kombiniert Hicks stets neue Farben und bringt die unterschiedlich farbigen Schnüre, wie in Meeting on the staircase 1 und 2 (2023) direkt auf Tuchfühlung. Zusammen ergeben sie ein Bild von Üppigkeit und Fülle.
Während die Grundlage für Hicks Arbeiten das Hinzufügen von etwas – einer Farbe, einer Schnur – ist, bildet das Begrenzen die Basis für die Arbeiten von Bock. Im Dialog werden diese künstlerischen Herangehensweisen besser nachvollziehbar. Auch wenn sie das auf unterschiedliche Weisen tun: Feinfühlige Beobachterinnen von uns Menschen, unseren Ritualen und den Kontexten, in denen wir uns tagtäglich bewegen – in diesem Abstand zwischen Himmel und Erde, den wir Leben nennen – sind sie beide allemal.