(De) Es ist wohl unvermeidlich, dass Kunstwerke, die während der Covid-Pandemie entstanden sind, entweder implizit oder explizit die in der anhaltenden Krise vorherrschenden Verhältnisse und Stimmungen widerspiegeln. In der aktuellen Ausstellung zeigen Nicolás Guagnini und Leigh Ledare Arbeiten, in denen explizite und implizite Bezugnahmen miteinander einhergehen. Darüber hinaus reflektieren die gezeigten Werke die besondere Intensität der sozialen Verwerfungen, die sich in der von Einkommensungleichheit, Rassismus und keimendem Neofaschismus geprägten US-amerikanischen Gesellschaft vollzogen. Gegen einen solchen medizinischen Notstand hielten sich die Vereinigten Staaten für bestens gerüstet. Trotzdem hat das Virus dort einen höheren Tribut gefordert als in irgendeinem anderen Land.
Leigh Ledare drehte seinen 16mm-Film NA JA (2021) auf dem Höhepunkt der Pandemie an dem Pennsylvania-Bahnhof („Penn Station“) in New York. Der Standort war damals ein spannungsgeladener, scheinbar rechtsfreier Raum. Denn als Reaktion auf die massiven Black-Lives-Matter-Demonstrationen im Frühjahr 2020 hatte sich das NYPD, die kommunale Polizeibehörde von New York City, aus der Polizeiarbeit zur Sicherung des Alltags weitgehend zurückgezogen. Durch die Außenanlagen des Bahnhofs streift nun eine unauffällig aus der Ferne beobachtende, voyeuristische, gegen die gängigen sozial-ethischen Ab- und Anstandsregeln verstoßende Kamera. Das einstige Bahnhofsgebäude, das als Meisterwerk des Beaux-Arts-Stils galt, wurde 1963 kurzerhand und umstandslos abgerissen. An seiner Stelle entstand ein weitgehend unterirdischer, von seinen Kritikern als „dysfunktionale Katakombe“ bezeichneter Bahnhof, der jahrzehntelang geplagter Schauplatz von Sicherheitsproblemen sowie von sexuellen Übergriffen war. Unter Pandemiebedingungen verschlimmerte sich die Situation nur. Die Kamera richtet sich fünfzehn oder zwanzig Sekunden lang auf einen Mann ohne Hemd, der in der geschmähten Anlage herumstreunt. Einen Moment später schaltet die Kamera auf Schwarz, dann auf eine modisch gekleidete junge Frau, um daraufhin zu einem unruhigen, rastlosen Absuchen zurückzukehren. Ledare überlässt es den ZuschauerInnen, die soziale Wirklichkeit von den verschiedenen Oberflächen abzulesen, die teils aus gehärtetem Beton oder Stahl, teils aus pulsierender Haut, aber immer aus empirischen Gegebenheiten bestehen. Im Hintergrund erblickt man architektonische Darstellungen, die einen neuen, noch zu erbauenden Bahnhof – „New Penn Station“ – evozieren und ankündigen. Nicht vorhanden in diesen Darstellungen sind allerdings die Obdachlosen, die psychisch Kranken, die Sex-ArbeiterInnen und die Nichtsesshaften, die keine andere Option haben, als diesen Ort zu ihrem Zuhause zu machen. Ledare legte seinem Film den Soundtrack von Joseph Beuys’ Ja, ja, ja, ne, ne, ne zugrunde, wie dieser von Ledare und Paul McCarthy neu interpretiert und aufgeführt wurde. Im Film scheint sich dieses widersprüchliche Mantra aus Bejahung und Verneinung auf die US-amerikanische Interjektion „Whatever!“ – „Egal!“, „Wie auch immer!“ – hinauszulaufen.
Nicolás Guagnini indes stellt mehrere unterschiedliche Arbeiten aus. Bei der Arbeit The Rally [Die Kundgebung], die zentral auf einem großen Tisch im Hauptraum der Galerie inszeniert wird, steht ein Dutzend deformierter Keramikköpfe auf einem Raster aus Donald Judd-Katalogen. Sie bilden ein Kollektiv, das sich konform mit der ominösen, unheilverkündenden Form einer orangefarben-braunen Hand verhält. Drei Keramikarbeiten mit dem Titel Apus verfolgen das Geschehen als hilflose Zuschauer. Das Ensemble fungiert als Parodie auf das gescheiterte Theater der Demokratie, als eine Art überzeichneter Verzerrung des öffentlichen Raums infolge des Aufstiegs der Alt-Right.
Diese Skulpturen ergänzt Guagnini mit der Zeichnungsserie COVID Drawing Series (2020). Mit Grafit und Farbstift ausgeführt, lassen sich diese bescheidenen, „grotesken und ornamentalen“ Zeichnungen als gestanzte, aber kalligrafisch anmutende Silhouetten lesen. An den Querschnitt einer Lunge erinnernd, stoßen diese porösen, aber jetzt steifen Formen giftig-übelriechende Ausdünstungen aus. Ihre Titel, wie etwa Religious Death Drive [Religiöser Todestrieb] (2020) oder Low Viral Load [Niedrige Virusbelastung] (2020), unterstreichen die düstere Stimmung. Das im Durchgangsraum gezeigte Gemälde Wildfire Painting (2021) scheint im etwa gleichen Register konzipiert worden zu sein, nur ist die monumentale Figur hier abstrakter gehalten. Zudem steht der Himmel dahinter in Flammen und brennt lichterloh.
Bei seinen im oberen Ausstellungsraum gezeigten 4 Seasons or COVID Paintings (2020/21) handelt es sich um kleine Werke, die ebenfalls scheinbar monumentale, skulpturale Köpfe darstellen, die sich vor einem niedrigen Horizont gegen den Himmel abzeichnen. In einem weiteren kapellenartigen Kabinett steht im Gegensatz zu all dem eine Sphinx aus Keramik, ein Sammelsurium aus inneren und äußeren Organen, darunter drei Penisse, die den Kopf ersetzen und doubeln, sowie ein Ohr, das den After ersetzt. Die Glasur auf diesem Werk lässt eine Mixtur aus Schleim und Blut vermuten.
Ledare zeigt darüber hinaus noch drei massenmediale Assemblage-Arbeiten aus seiner Serie Plots [Handlungsverläufe], wobei jede Arbeit einem der sieben Kapitel aus seinem 2017 erschienenen Film The Task [Der Auftrag] entspricht. Das aufwendige Filmprojekt ist eine künstlerische Intervention, bei der Ledare sich und seine Kamera in die renommierte Form der systembasierten Sozialpsychologie hineinbringt, die unter dem Namen „Tavistock“ (oder auch „Group Relations“) bekannt ist, und häufig zum Zweck der Unternehmensoptimierung eingesetzt wird. Die drei Anordnungen von gedruckten Ephemera aus Plots, die hier zwischen großformatigen, an Bildschirme erinnernden Glasscheiben gezeigt werden, evozieren soziale Positionen und Zusammenhänge und verweisen gleichzeitig auf eine Vielzahl an kulturellen Genealogien, die unserer heutigen Zeit zugrunde liegen.
Zuletzt haben die beiden Künstler ein gemeinsames Werk, Facebook (2021), realisiert, das sie zum Teil als Porträt-Arbeiten bezeichnen. Dazu haben sie kreisförmige Kernstücke aus den Deckeln ausgewählter Bücher ausgeschnitten und die resultierenden Öffnungen dann als Rahmen für fragmentarische, pornografische Bilder benutzt. Die hier zu sehenden Titel lauten: Senecas Letters from a Stoic [Briefe eines Stoikers] Rousseaus Discourse on Inequality [Abhandlung über die Ungleichheit], sowie Kierkegaards Training in Christianity [Einübung im Christentum]. Letztendlich evozieren Ledares und Guagninis Montagen die Philosophie im Boudoir des Marquis de Sade.
Text: John Miller
Übersetzung: Richard Humphrey