(De) Die Malereien von Lin Olschowka zeigen Ausschnitte einer Welt, von der man selbst auf den ersten Blick nicht unbedingt Teil sein möchte: Die Umgebung ist kalt, das Licht hart, und die Körper ähneln weniger charakterstarken Subjekten als austauschbaren Objekten. Ein Bild zeigt eine weiße, junge, normschöne Frau im Bikini in einem geöffneten Solarium. Auf einem anderen formt grelles Helikopterlicht einen Kegel in der Dunkelheit. Ein weiteres Gemälde präsentiert die zerschnittene, blutige Innenfläche einer fleischigen Hand.
Ein möglicher Zugang zu der Bilderwelt, die Olschowka mit ihren Gemälden auf Leinwand und Holz erschafft, lässt sich durch den dunkelgrünen Vorhang „Delft 2” (2023) finden, den die Künstlerin Jan Vermeers „Brieflesendem Mädchen am offenen Fenster” (1657–59) entlehnt hat. Vermeers Gemälde enthielt jahrzehntelang eine Art „anwesende Abwesenheit“, ein unsichtbares Bild im Bild. Bei einer Röntgenaufnahme im Jahr 1979 erkannte man, dass sich an der Wand hinter dem Mädchen ein vollständig übermaltes Bild eines nackten Cupidos, dem Liebesgott, befunden hatte. 2018 beschloss man die zusätzliche Farbschicht zu entfernen, weil eine Untersuchung ergeben hatte, dass die Übermalung erst nach dem Tod von Vermeer angebracht worden sein konnte. Das Bild im Bild ist seitdem sichtbar. „Bilder in Bildern und deren Sichtbarmachungen interessieren mich“, erklärt Olschowka. Folgen wir ihr durch den grünen Vorhang.
Die meisten ihrer Gemälde basieren auf Screenshots, die Olschowka mit dem Handy oder dem Computer aufgenommen hat. „Selbstbildnis” (2023) zeigt ebenfalls einen weißen Frauenkörper, diesmal in einer futuristisch wirkenden MRT-Röhre. Die Figur ist bis auf ein Paar hochhackige Schuhe nackt und extrem in die Länge gezogen. Der Körper scheint unnatürlich, die Brüste wie aufgeklebt, die poren-, falten- und leberfleckfreie Haut wird in Grün, Gelb und Rot vom künstlichen Neonlicht angestrahlt – ein Körper als Ware, im Stil des britischen Pop-Art-Künstlers Allen Jones. Alles in diesem Bild ist glatt, von der Oberfläche des technischen Apparats, über den Körper bis zum umgebenden Raum, der aufgrund der Leere eher an eine Weltraumatmosphäre erinnert als an ein Untersuchungszimmer.
Die Magnetresonanztomographie, abgekürzt MRT, erzeugt Bilder des Körpers, um krankhafte Veränderungen an Organen festzustellen. Die technische Apparatur produziert damit nicht nur Repräsentationen des ansonsten unsichtbaren Inneren des Körpers, die Diagnose kann durch die Sichtbarmachung einer „anwesenden Abwesenheit” einen realen Wendepunkt im Leben eines Einzelnen bedeuten. Die Maschine und die Künstlerin haben hier etwas gemeinsam: Sie beide übersetzen den Körper in Bilder und machen etwas sichtbar, was zwar schon da war, aber noch nicht sicht- oder sagbar. Indem Olschowka das Bild als Triptychon anordnet, betont sie die spirituelle Wirkung der strahlenden Röhre, die fast wirkt, als könne sie den Körper komplett einsaugen und in einer anderen Welt wieder ausspucken.
Olschowkas Bilder verhandeln Verhältnisse zwischen Gegenwart und Zukunft, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, aber auch zwischen Wissen und Unwissen: Nicht nur die Bilder des MRTs lassen Wissende Deutungen über die Zukunft vorhersagen, auch der Kaffeesatz, wie in „5 Artists Who Stole Their Own Career” (2023) oder die Linien auf der Handinnenfläche, die man heutzutage, wie „Fixing Fortune” (2023) zeigt, über eine Operation so manipulieren kann, dass der veränderte Verlauf der Lebenslinien eine positivere Zukunft prophezeit.
Mit ihren Arbeiten reagiert Olschowka auf die unterschwellig drängende Macht der uns digital wie analog umgebenden Bilder, die jederzeit „anwesenden Abwesenheiten“, die die Künstlerin sich aneignet und in neue Zusammenhänge setzt. Indem Olschowka in ihren Werken mit dem Thema der Sichtbarmachung – auch im Sinne der Entdeckung und der Vorhersage – spielt, konfrontiert sie uns mit Fragen wie: In welcher Zukunft wollen wir leben? Wer ist wissend? Welche anwesenden Abwesenheiten bevölkern unsere Gegenwart – und welche (vielleicht noch unsichtbaren) Wendepunkte ermöglichen sie?
Lin Olschowka (*1995, Münsterlingen, CH) lebt und arbeitet in Karlsruhe. Ihr Malereistudium schloss sie 2021 als Meisterschülerin bei Erwin Gross an der Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe ab. Eine Einzelausstellung richtete zuletzt das Rosgartenmuseum Konstanz aus. Ihre Arbeiten waren zudem Teil zahlreicher Gruppenausstellungen, bei HAMLET (Zürich, 2023); im Museum Allerheiligen (Schaffhausen, 2023); der Gesellschaft der Freunde junger Kunst Baden-Baden (2022) sowie bei Meyer Riegger (Karlsruhe, 2022/2023).