(De) Ulla von Brandenburgs Ausstellung Die Schwelle spürt einem Raum zwischen Licht und Schatten nach, zwischen Faktischem und Mythischem. In der westlichen Kunst- und Kulturgeschichte, insbesondere in der Malerei, dominiert in vielen Traditionen die Betonung der linearen Kontur und der klaren Abgrenzung der Formen. Demgegenüber sucht die Künstlerin die Bedeutungen des Uneindeutigen, dessen, was im Schatten liegt, und das durch einen anderen Blick erprobt werden muss.
Von hier aus lässt sich Ulla von Brandenburgs Reise nach Kyoto verstehen, wo sie im Rahmen des Villa-Kujoyama-Stipendiums auf die japanischen Traditionen der Architektur, des Textilen und der Färbekunst traf. Zwischen den Gebräuchen und ihren Bedeutungen, den Bauten mit ihrer Schwellenarchitektur und den charakteristischen Eigenheiten, etwa den Noren – jenen Vorhängen, die Räume trennen und zugleich verbinden – entdeckte die Künstlerin die Schwelle als Motiv, das in ihrer Arbeit längst eingeschrieben ist. Begleitet eben nicht von westlicher Literatur, sondern von Einflüssen des Nô-Theaters und Jun’ichirō Tanizakis Lob des Schattens spürte, Ulla von Brandenburg dort der Dramaturgie dieser Übergänge nach: wie ein Raum durch das Spiel von Licht und Dunkel geprägt wird, wie Schwellen nicht nur trennen, sondern den Schatten inszenieren. Im Gegensatz zur westlichen Bauweise wird hier nicht nur das Licht gesucht, sondern ebenso werden die Schatten in die Häuser eingeladen, mit ihnen gerechnet und sogar für sie gebaut. Die Einladung der Schatten in die Häuser und damit in das Leben lässt sich in eine generelle Art des Wahrnehmens übersetzen: Was, wenn wir den Übertritt der Schwelle nicht nur als Schritt ins Helle des Tages – in Richtung Orientierung – verstehen, sondern auch den Übertritt ins Dunkle als Bewusstwerdung? Wenn wir die Schwelle selbst als einen Ort der Verbindung dessen anerkennen? Auch für Ulla von Brandenburg ist die Schwelle kein bloßer Ort der Trennung, sondern eine Zone der Berührung: Schatten werden hier zu Akteuren, Yōkai – jene geisterhaften Wesen der japanischen Kultur – zu Begleitern. Sie entziehen sich der Eindeutigkeit, mal bedrohlich, mal komisch, mal poetisch. Sowohl in der japanischen Mythologie als auch in von Brandenburgs Werk bevölkern sie jene Zwischenräume, die wir sonst gewöhnlich zu überbrücken suchen.
Mit ihrer Bolex-Kamera filmte die Künstlerin in Weiß-Schwarz Szenen aus Nô- und Butō-Aufführungen, Feste der Yōkai, Momente des Färbens. Ihre Stimme aus dem Off schwebt über den Bildern, ein Kommentar, der gleichermaßen nah und entrückt wirkt, gleichsam dokumentarisch und beschwörend. Die Tücher und Vorhänge wiederum tragen die Spuren dieser Suche: So entstanden während ihres Aufenthalts in Japan gefärbte Stoffe, die den traditionellen Färbetechniken und Vorhängen nachempfunden sind. Hier zeigen sich Indigo-Blau, das wie ein lebendiges Wesen gepflegt wird; Schattenzeichnungen, die sich durch die Färbetechniken von Katazome oder Shibori einschreiben.
Dem Film begegnen wir in der Ausstellung, indem wir selbst hinter eine Schwelle (Kekkai) treten, und zwar eine, die durch zwei aufeinander zulaufende Vorhänge im Raum etabliert wird. Die Yōkai, auf deren Suche sich die Künstlerin auf ihrer Japanreise machte, tauchen hier auf, während sie im Film nur beschrieben sind. Sie zeigen sich hier jedoch nur als Abbilder, in der Spur einer künstlerischen Praxis. Die Vorhänge selbst spiegeln sich an der Linie ihrer Begegnung und bilden ihr jeweiliges Gegenüber. Sie sind traditionell gefärbte Stoffe, durch deren Bearbeitung des Indigo sich elf tanzende Yōkai zeigen.
Zwischen diesen Medien formt sich eine dichte Bildsprache. Das Textile wird zum Schwellenkörper, der Räume teilt und verbindet, die Cyanotypie zur Fixierung des Flüchtigen, der Film zur Überlagerung von Stimme und Bild. Nichts ist hier nur Darstellung, alles Spur und Prozess, Einschreibung und Entzug zugleich.
Das Sehen stößt an seine Grenze, sobald zu viel oder zu wenig Licht die Augen trifft, wodurch diese Erfahrung als Sehen im verschwommenen Zwischenraum spürbar wird. Auch in von Brandenburgs Arbeiten geht es um solche Grenzerfahrungen – darum, sich in den Schatten hineinzuwagen, ohne ihn auflösen zu wollen. Diese Perspektive verweist auf eine Nähe zu Denk- und Bildtraditionen, die das Mythische nicht als Gegensatz zum Realen verhandeln, sondern es als konstitutiven Bestandteil des Alltags anerkennen. Vergleichbar mit Elementen der japanischen Kultur, in der Rituale, Zeichen und Bräuche mythische Bedeutungsträger in das Alltägliche einschreiben, zeigt auch von Brandenburgs Arbeit eine Formsprache der Verbindung: eine ästhetische Praxis, die das Faktische und das Fantastische in ein relationales Gefüge überführt. Das zeigt sich nicht nur in ihrer inhaltlichen Auseinandersetzung, ihrer künstlerischen Forschung und dem Nachspüren des Unbekannten, sondern spiegelt sich auch in den Medien wider, die diese Suche begleiten. Nicht nur in den blauen Lichtfärbungen der Cyanotypie tritt diese Spiegelung von Spur und Präsenz hervor; auch die technischen Medien der Fotografie, die filmische Tonspur und die japanische Färbetradition behaupten gleichermaßen dieses okkulte Dazwischen.
Die Cyanotypien Ulla von Brandenburgs, auf Stoff gefärbt und mit schemenhaften Kleidungsstücken durchzogen, stellen eine eigentümliche Spur zwischen Fotografie und Geisterbild dar. In dieser ältesten Form der Lichtfotografie zeigt sich, was André Bazin als „Mumien-Komplex“ beschrieb: der Versuch, Dauer durch Abdrücke zu konservieren, eine Spur von Leben zu fixieren. Doch bei von Brandenburg tritt das Indexikalische – die Fotografie als Abdruck von Realität – in eine Verschiebung. Denn die Cyanotypien sind weniger Abbild als Erscheinung im Modus des Schattens, da die vom Licht unberührten Stellen erscheinen: die Kleidungsstücke erinnern an menschliche Körper, doch sie verflüchtigen sich in Bewegung, wirken wie geliehene Körper, wie Abwesenheiten, die im blauen Stoff weiterzittern. Wenn die Künstlerin also fragt: „Wie kann ich Bilder montieren, die Dinge zeigen, die mir nicht gehören?“, dann findet sich hier eine Antwort. In diesem merkwürdigen Verhältnis des Dazwischen, von Abbild, Nicht-Bild und Eigending.
So verweist Die Schwelle auf unser eigenes Unterbewusstsein, das ebenso erforscht werden muss, wie die Künstlerin den Schatten nachspürt. Die Arbeiten zeigen Prozesse, die Zeit aufnehmen und zugleich in Bewegung setzen. Hier wird spürbar, dass die Bilder, Assoziationen und Bedeutungen gerade an ihrer Durchlässigkeit erscheinen, wenn klare Grenzen verblassen.
Carolin Heel