(De) Meyer Riegger freut sich, eine dreiteilige Ausstellung mit Werken von John Miller aus den 1980er Jahren bis heute anzukündigen. Viele der älteren Arbeiten wurden bisher noch nicht in Europa gezeigt. Die Ausstellung findet gleichzeitig in Berlin, bei Meyer Riegger und Trautwein Herleth, sowie bei Meyer Riegger in Karlsruhe statt. In jedem Teil der Ausstellung wird ein anderer thematischer Aspekt von Millers Oeuvre beleuchtet.
Ausstellungstext von Elisa R. Linn:
Viele haben über John Millers Schaffen als Künstler, Musiker, Schreiber, Lehrender und Freund geschrieben und die meisten von ihnen wissen – im Grunde kann das keiner so pointiert wie er selbst:
„Eingeschrieben in die Forderung zu produzieren, ist die unabdingbare Forderung zu konsumieren. Die politische Ökonomie weist jedoch die Arbeit des Konsums der sogenannten Freizeit oder ‚freien‘ Zeit zu. Doch wie frei ist frei?”
In der Ausstellung Cavalcade of Brown in der Galerie Trautwein Herleth begegnet den Betrachtenden eine Kavalkade von Malereien, Skulpturen und Prints, die weniger prachtvoll-feierlich als verstörend wirken. Millers Signature-Braun (das ihm mitunter den Ruf des „Yves Klein des Braun” verschaffte), lässt kindlich-fäkale Gedankenspiele mit dem Abstoßenden, ja Abjekten aufkeimen, während es zugleich Bezüge zur Erdverbundenheit der Land Art oder zu den ausufernden Impasto-Pinselstrichen des Abstrakten Expressionismus als Gesten des Grandeur künstlerischer Subjektivität provoziert. Statt an ein malerisches Muskelspiel zu erinnern, wirken die Pinselstriche Millers vielmehr wie eine cartoonartige und zugleich „reale” Darstellung desgleichen. Einst als emotionale Reaktion auf Millers selbst auferlegtes Mandat, jeden Tag ein Bild – „Bilder von Bildern” – wie er sie nennt, nach dem Zufallsprinzip zu malen, begann er mit den braunen Arbeiten in den 1980er Jahren, als er feststellte, dass die vermeintliche „Liebe zur Farbe” eine Frage der Ambivalenz war. Das „Miller-Braun” steht gewissermaßen selbst exemplarisch dafür: Keine schöpferische Eingebung spiegelt hier das random schlammig-erdige Farbergebnis wider, sondern es folgt eher dem Pragmatismus, wenn Primärfarben auf der Palette subtraktiv zusammengemischt werden und sich gegenseitig „auslöschen”.
Millers „Fäkalbraun”, wie er selbst es bezeichnet, spiegelt gewissermaßen Sigmund Freuds Annahme wider, dass das Kunstschaffen ein sublimierter Anal-Trieb sei – gemäß der Annahme: das Bedürfnis, Kunst zu schaffen, entsteht aus dem Bedürfnis, Kot zu modellieren – wobei in Millers Arbeiten von einer Umleitung der Triebenergie in Kreativität im Grunde kaum die Rede sein kann. Eine Tatsache, die das kontemplierende neoliberale Subjekt im Galerieraum schon einmal in eine tiefgreifende Krise stürzen oder zu dessen Realitätsverlust führen kann. Hier begegnet einem nicht etwa die Reinkarnation eines Prunkstilllebens mit opulenten Speisen wie man es aus der niederländischen-flämischen Malerei des 17. Jahrhunderts kennt. Nein, hier rinnt braune Masse wie Kot aus einem auf den Kopf gestellten Turm aus Abfalleimern über Plastikfrüchte.
An den Galeriewänden reihen sich braune, monochrome Öl-Malereien oder Miller zufolge „Pseudo-Abstraktionen”, die erstmals 1986 bei Metro Pictures in New York gezeigt wurden und deren geometrische Elemente teils an aufrechte Körper, antike Säulen und christliche Ikonographie denken lassen. An einer anderen Wand hängen hyperreale Inkjet-Prints auf Leinwand. Sie zeigen Außenaufnahmen von Millers zweiter Wahlheimat Berlin, die der Künstler auf der Straße beim dérive, dem bewussten, ziellosen Umherschweifen, wie es Guy Debord einst beschrieb, fotografierte: Detailaufnahmen von einer halb abgerissenen Plakatwand und strukturierten Häuserwänden – von einer umzäunten Brandwand als feuerbeständiger Barriere, über einen expressionistischen Ziegelstein bis hin zum Waschbeton eines Ostberliner Plattenbaus – Häuserfassaden, die allesamt beim urbanen Flanieren meist passiv statt haptisch wahrgenommen werden. Mit geometrischen, braunen Impasto-Farbflächen übermalt, und von Miller mit Schlagschatten in die Umgebung der Fotografien in Trompe-l’œil-Manier eingebettet, unterwandern sie die modernistische Idee von Interieur und Exterieur, Privatem und Öffentlichem, vom Exkrement-Braun im White Cube oder auf der Häuserwand im Stadtraum. Wie Walter Benjamin und Asja Lācis in Neapel (1925) bereits feststellten: „So wie das Wohnzimmer auf der Straße wieder auftaucht, mit Stühlen, Herd und Altar, so … wandert die Straße in den Wohnraum.” Das ruft auch Dan Grahams künstlerisch-architektonisches Konzept Alteration to a Suburban House” (1978) in Erinnerung, das Miller in seinem Text Now Even the Pigs’re Groovin’ (2001) bis aufs Mark analysierte, nämlich den Vorschlag, die Fassade eines Vorstadthauses durch ein gläsernes Panoramafenster zu ersetzen, das den Innenraum enthüllt.
Miller stellt stets sicher, dass sich die Betrachtenden sowohl der Künstlichkeit des Gezeigten als auch ihrer eigenen Position im Ausstellungsraum immer wieder bewusst werden. Denn wie das Kollektiv Chto Delat mit Brechtschem Ethos einmal formulierte: „Es reicht nicht aus, Scheiße noch mehr nach Scheiße aussehen und riechen zu lassen. Es ist wichtig, den Betrachter davon zu überzeugen, dass es auch etwas gibt, das sich von Scheiße unterscheidet.” Dafür sorgen auch sogenannte „through the looking glass”-Gesten, wie Miller sie in Bezug auf Juan Downeys einflussreiches Videoessay The Looking Glass (1981) nennt. Bei Miller dient der Spiegel oft als ironisches Utensil der Selbstreflexion und Hinterfragung ideologisch geformter Identität, ja des Erkennens, das Subjekte erst ins Leben ruft, wenn sie von ideologischen Apparaten – ob Staat, Medien oder Kultur – im Althusserschen Sinne „angerufen” werden: „Hey, Sie da!”. So hängt auch hier ein Spiegel auf Augenhöhe mit einem braunen Impasto-Flatschen beschmiert und verdeckt das Erscheinungsbild des sich selbst Betrachtenden, während es lediglich Fragmente seiner selbst reflektiert. Denn „unaufhörliches Spiegeln ist das Endprodukt der Massenkultur” (Miller) und schafft dabei eine fragmentierte Erfahrung der Realität.
Everything & More bei Meyer Riegger in Berlin konzentriert sich auf jene Werke Millers, die sein Fäkalbraun ab Mitte der 1980er-Jahre ersetzen sollten – nach Freudschem Verständnis das Gleiche in anderer Verpackung: Millers goldene Reliefs, die als Beleg für die Sonntagsreden und Augenwischerei der amerikanischen Konsumkultur gelten, und zeigen, wie man aus unterdrücktem Ekel eine Fülle an Genuss ziehen kann – nämlich, wie aus kulturellen Abfallprodukten, Scheiße, vermeintlich Gold gemacht werden kann. Hinter der scheinbar blattvergoldeten Inszenierung von Begehrlichkeit und Wert in unterschiedlichsten Variationen auf vordefinierten Maßen von Panels, verbirgt sich ein Potpourri aus kulturellem Trash-Trödel, wie man ihn in den 2000ern beispielsweise, nicht unweit von Millers Studio in New York auf der Canal Street vorfand: billige Nietengürtel, Schlüsselanhänger, Bling oder Körperteile von Schaufensterpuppen beziehungsweise „Canals erbärmlicher Exzess”, wie es Matt Keegan, der Miller bei der Produktion der Arbeiten im Studio assistierte, einmal treffend bezeichnete. Vermutlich könnte man in diesen Arbeiten auch das bürgerliche Bedürfnis erkennen, die „Körper-Maschine” (Silvia Federici) zu regulieren und von jedem Element zu reinigen, das eine „tote Zeit” in der Arbeitsleistung zum Vorschein bringen könnte.
In einem Akt der Verdinglichung wurde junk hier in Fake-Deko-Gold getüncht und als Echtblattgold camoufliert, während der Goldrausch der 2000er boomte – eine Zeit, in der Eyecatcher-Kunst in Form von „proxy gold standard” und „art fair art” (Jack Bankowsky) nicht davor scheute, Substanz für Anreiz zu opfern und in das innerste Heiligtum des Kommerzes einzudringen. Millers megalomanes Monument eines heiligen Kriegers mit all seinen christlichen Tugenden neben einem Schrotthaufen von Devotionalien und einem Arsenal von Waffenspielzeug steht exemplarisch dafür, wie der quasi-religiöse Fetischcharakter der Waren des 21. Jahrhunderts die klassischen Ikonen ablöste, die aus den Kirchen in die Museen und Kunstmessestände verlagert und zu Warenwundern wurden. Das Motiv eines prallvollen Füllhorns, das als reichhaltige, überfließende Quelle von Ressourcen und Konsumgütern fungiert, symbolisiert auch einen maßlosen Überfluss – ein Überfluss, der Wünsche und soziale Beziehungen auf eine Weise prägt, die Realität verschleiert. Millers groteske, mit Plastikfrüchten überzogene, kumpelartige „Binishells” verdeutlichen dies. Erfunden von Dante Bini in den 1960er Jahren, handelt es sich um eine dünne Betonschalenstruktur, die durch Luftdruck angehoben und geformt werden kann. Mit Plastikfrüchten bedeckt, erscheint Millers Lookalike wie eine in den Ausstellungsraum verfrachtete, modellbahnähnliche Miniaturlandschaft. Inspiriert von Giorgio de Chiricos Stillleben, in denen Früchte im Vordergrund einer abgelegenen Landschaft emporragen, drückt sich de Chiricos „plastische Einsamkeit” aus, ja „das Doppelleben eines Stilllebens, nicht als Bildmotiv, sondern in seinem übersinnlichen Aspekt, sodass sogar eine vermeintlich lebende Figur einbezogen werden könnte”, wie de Chirico es selbst beschrieb.
Jene Brüche der Kontinuität und Vorstellungen von Verschiebung finden sich auch in den Werken Millers, die bei Meyer Riegger in Karlsruhe thematisch um Public Works kreisen. 1994 begann er seine Serie The Middle of the Day als fortlaufendes Projekt, bei dem Miller fast jeden Tag zwischen 12 und 14 Uhr ein Foto in der „Grauzone” der öffentlichen Sphäre macht – die Tageszeit zwischen „leisure” als „gemanagte und managebare Form des Konsums” und „work”, die nicht nur der Künstler selbst am wenigsten mag. So bemerkte Miller beispielsweise in einem Text, wie sich der Schlagzeuger in Todd Rundgrens Song Bang on the Drum dem Schlagzeugspielen zuwendet, um sich von der ständigen Notwendigkeit, zu produzieren und zu konsumieren, zu befreien.
Ich will nicht arbeiten.
Ich will den ganzen Tag auf dem Schlagzeug trommeln.
Ich will nicht spielen.
Ich will den ganzen Tag auf dem Schlagzeug trommeln.
Mit Millers tagebuchartigem Reservoir von Stillleben, Stadtplätzen, Storefronts oder umherstreifenden Menschen, das im Grunde ein Gegenarchiv von dem ist, was Allan Sekula „Schattenarchiv” nannte, lenkt Miller die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung von Orten, sogenannte „ideologische Nicht-Orte” (Miller), die oft unspektakulär sind und unterhalb der „Schwelle” der gewöhnlichen Wahrnehmung Bedeutung generieren. Das sind Orte, die manchmal nicht unweit von der „Absolutschwelle” existieren – die „niedrigste Reizstufe, die ein Organismus wahrnehmen kann.” Oder, um es mit Lefebvres Worten zu sagen: „Der Alltag ist daher der universellste und einzigartigste Zustand, der sozialste und individuellste, der offensichtlichste und am besten verborgene.” So etwa das Bild einer Frau, die Miller mit der Kamera einfing, als sie vor der Bäckereikette Kamps die Straße passiert. Sie wirkt zerstreut, in Gedanken versunken, während ein Mann im Hintergrund seinen Mittagskaffee genießt und die Frau scheinbar (oder gar sein eigenes Spiegelbild?) durch die Fensterscheibe der Bäckerei beobachtet.
Ebenso wie Millers nüchterne Graphitzeichnungen, die Christopher Williams einmal mit „Zahnarztpraxis-Kunst” verglich – so „unbelastet von dem Anschein von Absichtlichkeit und Virtuosität” – nutzen auch Millers Fußgänger-Malereien das Reservoir von The Middle of the Day als Vorlage. Die oft zufälligen Ansammlungen von Menschen, die an Kreuzungen verweilen, ja darauf warten, dass die Ampel auf Grün springt, wirken mit ihren realistisch gemalten Graustufen auf inzwischen gebogenen, lebensgroßen Panels, die den Fußboden der Galerie berühren, wie Charaktere eines Tableau vivant oder aber wie die „Standees”-Charaktere eines Krimi-Filmplakats. Dabei kommt Millers American League (2013) fast schon wie eine bodenständigere Cliquenversion von Steven Spielbergs Ocean’s Twelve (2004) daher.
Wie aus dem Kontext gerissen, veranschaulichen die in den Galerieraum verfrachteten Fußgängerinnen den Zwang zur „Selbstdarstellung” (und Fremdzuschreibung) im öffentlichen Raum, wobei jeder einzelne von ihnen scheinbar Shoshana Zuboffs immer smarter werdenden Überwachungskapitalismus auch in der privatesten Ritze verinnerlicht hat – so als stünden sie ständig „auf der Bühne”. Genau diesen Aspekt nahmen bereits Millers berüchtigte Game Show Paintings* (1998) voraus, wo abgründige TV-Konsumbühnen, inspiriert von Fernsehspielshows wie The Price is Right, mit amerikanischen Südwestlandschaften als patriotische Sehnsuchtsorte des Sublimen konterkariert wurden. So auch die Reality-TV-Show-Malereien (ab 2013) – Close-up-Porträts des typischen Heulausdrucks schmerzverzerrter Gesichter von Menschen, die scheinbar alles im TV entblößen, wie Miller es auch schon in Gameshows beobachtete: „Ohne Nahaufnahmen der Gesichter hysterischer Frauen, die von ihrem neu gewonnenen Reichtum überwältigt sind, würde die Spielshow ihr ‚menschliches’ Interesse verlieren.”
Was sich letztlich durch die meisten von Millers Arbeiten zieht, ist, dass sich seine künstlerischen Methoden im Einklang mit der technologischen Entwicklung um ihn herum anpassen und verändern. Ob es sich um den Wechsel von analogen zu digitalen Kameras, neueren iPhone-Modellen und integrierten Bearbeitungs-Apps handelt – er verwendet das, was allgemein verfügbar ist: die Ausrüstung eines leidenschaftlichen Amateurs und nicht die eines professionellen Fotografen. Seine PowerPoint-Serie etwa nutzt das weltweit gängige Mainstream-„Präsi-Medium” als Weiterführung der schier endlosen und fragmentierten Natur seiner akkumulierten Fotografien. Kontextualisiert und doch zusammenhangslos, anonym und doch autobiografisch, haftet Millers Bild-Text-Slides eine unheimliche hauntologische Präsenz an. Ohne Gefahr zu laufen, in ästhetisch anspruchsvolle oder programmatische Kunst zu kippen, verliert sich Miller hier lieber selbst als entfremdeter Konsument in den sich selbst reproduzierenden Massen der Öffentlichkeit: „Ich habe diesen ganzen Touristenkitsch satt. Aber ich muss zugeben … dieser Bär hat etwas an sich”, koppelt Miller die Worte mit einer Nahaufnahme eines Schlüsselanhängers, an dem ein kleiner, Plüschbär hängt – ein Souvenir, das wie kein anderes Berlin verkörpert.